Nachtleben
reinließ, damit Ingrid sich beruhigen konnte, tat Mutter mir nicht leid. Es war, als würde ich dabei zusehen, wie ein ätzender Klassenkamerad seine wohlverdiente Strafe bekam.
»Lass mich bitte rein, Franz, ja?«, bettelte Mutter. Franz lehnte sich von innen mit nur wenig Kraftaufwand gegen die Tür, und allein sein Gewicht drückte sie zu, egal, wie sehr Mutter sich dagegenstemmte. Ihr Schreien erstickte zu einem winselnden Bitten. Die Nachbarn pochten. Franz zog die Nase hoch, nölte: »Du kommst hier nicht rein«, und holte |269| sich ein Bier und einen Whiskey-Flachmann aus dem Kühlschrank. Durch die Tür konnte ich Mutters angestrengtes Atmen hören. Dann rief Ingrid meinen Namen, und ich bekam eine Gänsehaut.
»Franz«, flehte Mutter, doch er reagierte nicht, sondern setzte sich an den Küchentisch und sah zu mir herüber. »Die beruhigt sich auch wieder«, sagte er und deutete mit der Flasche in Richtung der Tür. Ingrid rief. Auf dem Tisch lagen ein schwarzer Cowboyhut, den ich mir an dem Tag gekauft hatte, und der dazugehörige Colt samt Plastikholster.
Franz nahm ihn, besah ihn sich und hantierte mit ihm herum. »Der ist viel zu leicht«, sagte er, zielte auf mich und machte Geräusche, als würde er schießen.
»Daneben«, hörte ich mich sagen. Franz lachte. »Ich bin Ronny, der Cowboy. Meine Schwester ist von Indianern gefangen genommen worden. Ich brauche meine Pistole.«
»Indianer?«
»Schoschonen.«
»Hm«, machte Franz. »Und du willst sie ganz alleine retten?«
»Ja.«
»Das ist mutig.«
Damit hielt er mir den Colt mit dem Schaft voran entgegen. Ungelenk erhob ich mich und stakste die paar Schritte zum Tisch, mit einem Gefühl im Magen, als ginge ich zum Lehrerpult, um eine verbockte Klassenarbeit abzuholen. Als ich nach der Waffe greifen wollte, zog Franz sie zurück und legte sie vor sich auf die Tischplatte.
»Hast du schon mal Whiskey getrunken?«, fragte er, und ich schüttelte den Kopf. »Dann wird’s aber Zeit. Cowboys trinken Whiskey.« Er nahm einen Schluck und hielt mir anschließend die Flasche hin. »Feuerwasser.«
Nachdem ich nur kurz dran gerochen hatte, nippte ich, und es war wie eine Stichflamme in meinem Mund. Ich verzog das Gesicht, schluckte gequält und streckte die Zunge aus dem |270| Mund, sog Luft ein und aus, während ich Franz die Flasche entgegenstreckte.
»Gewöhnste dich dran«, lachte er. »Irgendwann geht’s nicht mehr ohne.«
Ingrid rief wieder nach mir, und ich setzte den Hut auf, schnallte mir das Holster um die Hüften und nahm den Colt. Als ich gerade durch den Perlenvorhang ins Wohnzimmer verschwunden war, drang das Getrampel schwerer Schritte aus dem Treppenhaus in die Wohnung. Ich hielt inne. Dann konnte ich hören, dass Mutter aufgeregt mit jemandem tuschelte. Franz sprang auf und reckte den Kopf wie ein Jagdhund, der Witterung aufnahm.
Das Wohnzimmer wurde nur von drei runtergebrannten Kerzen beleuchtet. Ich bemerkte Ingrid, die in unserem Zimmer auf dem Boden hockte und durch den Türspalt zu mir herüberlinste. Ein Lichtkeil ragte ins Wohnzimmer. Ich lächelte sie an und legte den Zeigefinger auf meine Lippen.
»Wir schauen mal nach«, hörte ich eine Männerstimme aus dem Treppenhaus. »Ist das hier Ihre Wohnung?«
»Hast du Schlampe die Bullen geholt?«, brüllte Franz.
»Das war ich nicht.«
»Öffnen Sie bitte die Tür, wir möchten mit Ihnen reden«, sagte einer der Polizisten.
»Dafür muss ich nicht die Tür aufmachen.«
Mutter wisperte etwas. Schließlich wurde wieder geklopft.
»Wir wollen uns nur vergewissern, dass es den Kindern gut geht«, sagte der Polizist.
»Denen gehts bestens. Die spielen Cowboy und Indianer.«
»Davon würden wir uns gerne selbst überzeugen.«
Bis zu diesem Moment hatte Franz unbewegt neben dem Tisch gestanden, aber nun lief er in der Küche auf und ab. Ingrid flüsterte meinen Namen. Aus dem Treppenhaus waren das Rauschen eines Funkgerätes und eine quäkende Stimme zu hören.
»Ihr verpisst euch jetzt sofort, sonst schlage ich hier alles |271| kurz und klein!«, bellte Franz, und der Lichtkeil auf dem Wohnzimmerboden wurde schmaler, als Ingrid die Tür anschob. »Du schickst sofort die Bullen weg!«
»Ich kann die nicht wegschicken«, antwortete Mutter. »Ich habe denen aber auch sonst nichts gesagt, Franz. Gar nichts.«
»Halt dein Maul!«
»Sie öffnen jetzt unverzüglich die Tür.«
»Franz, mach bitte kurz auf. Ich mache auch keinen Stress, und du bekommst keinen
Weitere Kostenlose Bücher