Nachtleben
geschah und was es bedeutete.
Ich überlegte, Flavio anzurufen, aber ich war zu durcheinander, um all die Dinge erzählen zu können, die ich jahrelang für mich behalten hatte. Außerdem hatten wir in den letzten Monaten nur selten Kontakt gehabt. Von Merle hatte ich schon seit über zwei Jahren nichts mehr gehört, und Tonia oder einer meiner anderen Affären wollte ich nichts von der Sache erzählen. Schließlich rief ich, um mit irgendjemandem zu reden, bei Berti im Hotel an. Ich schuldete ihm noch einen größeren Gefallen und wusste, dass er Geschäftspartner in der Schweiz hatte. Weshalb ich dort hinfahren würde, erzählte ich ihm nicht. Dann holte ich mir einen Whiskey-Flachmann und Bier vom Kiosk, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
|194| Zwei Tage später war ich zur verabredeten Zeit am Treffpunkt und blieb an die Anschlagstafel der Benzinpreise gelehnt stehen, um nach Ingrids Auto Ausschau zu halten, das sie mir beschrieben hatte. Ich entdeckte es in einer Parkbucht, nur wenige Schritte entfernt. Ingrid saß auf dem Fahrersitz und fummelte am Plastikdeckel eines Kaffeebechers herum. Sie war von einer stillen Schönheit umgeben, die erst zum Vorschein kam, nachdem ich sie eine Weile angesehen hatte; als hätten meine Augen sich erst wie in der Dunkelheit auf sie einstellen müssen. Nach einem weiteren Moment erkannte ich das kleine Mädchen in ihr wieder, an das ich mich erinnerte. Aber die Zeit hatte aus ihrem Kindergesicht all die Dinge hervorgearbeitet, die es zu etwas Besonderem machten. Alles an ihr war schmal und kantig, ihre Wangen- und Kieferknochen zeichneten sich deutlich ab. Früher war ihre Nase leicht gebuckelt gewesen, wie eine Raupe in Bewegung, und nun hatte sie einen kleinen Höcker, ohne dabei krumm zu sein. Ihre Haut war blass, aber nicht bleich. Schminke oder Make-up trug sie nicht, und wahrscheinlich hätte sie damit nur all das zugeschmiert, was ihre Schönheit ausmachte. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, und sie pustete sie beiseite, während sie am Deckel knibbelte und ihn schließlich abgefriemelt bekam.
Tief durchatmend, rieb ich mir über den Backenbart und marschierte auf den Wagen zu. Im Vorbeigehen kontrollierte ich meine gegelten Haare in der Scheibe eines VW-Busses und schlug den Kragen meiner Jacke hoch, sodass Ingrid die Tätowierung am Hals nicht auf den ersten Blick bemerkte. Mein Atem gefror in der Luft zu einer Sprechblase, die Sekunden später schon wieder ungefüllt zu Boden nieselte. Ich wusste nichts zu sagen. Am Auto angekommen, öffnete ich, ohne anzuklopfen, die Beifahrertür und brabbelte ein knappes
Moin
. In der nächsten Sekunde steckte ich meinen Kopf ins Wageninnere und warf meinen Rucksack in den Fußraum.
|195| Ingrid zuckte zusammen. Sie hatte mich nicht kommen sehen, starrte mich für eine Schrecksekunde mit aufgerissenen Augen an, und der Becher zappelte in ihrer Hand wie ein widerspenstiges Meerschweinchen. Dann klatschte ein Schwall des dampfenden Kaffees auf ihre Bluse. Einen Schmerzenslaut von sich gebend, setzte sie sich im Sitz auf und ließ den Becher fallen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als sie mit dem Kopf gegen das Wageninnere bollerte.
»Fuck!«, entfuhr es ihr.
Ich verzog das Gesicht, als hätte ich selbst einen auf den Dez bekommen, streckte meine Hand aus, als könne ich das Geschehen noch stoppen, sah aber nur dem Becher hinterher, wie er in den Fußraum kullerte und seinen Inhalt über Ingrids Hose kleckerte.
»Ja, danke, Spacken! Du hast’s ja echt mal drauf«, motzte Ingrid.
Spacken
, wiederholte ich in Gedanken, und meine Anspannung war verschwunden, genau wie das stille Mädchen, das ich gerade noch in ihr entdeckt zu haben glaubte. Nachdem ich sie einen Augenblick lang überrascht angesehen hatte, musste ich loslachen.
»Lustig, ne?«, nölte sie, während sich der Kaffee unter ihren Hosenbund sog und sie sich die klitschnasse Bluse aus der Hose rupfte.
»Entschuldige, ich lache nicht wegen dem Kaffee«, sagte ich.
»Sondern?«
»Ich weiß nicht«, stotterte ich. »Ich dachte nur … du wärst irgendwie …«
»Imprägniert?«, unterbrach sie mich, und ich konnte nicht aufhören zu lachen. Schließlich stammelte ich: »Leiser oder so …«
»Ja, vor allem
oder so
, ne?«
Ingrid stieß die Fahrertür mit dem Fuß auf, und ich sah ihr dabei zu, wie sie, zierlich, wie sie war, aber stampfend wie |196| ein Holzfäller, den Wagen
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