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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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in den Nacken.
    »Oh«, machte sie. »Die Therapeutin wieder? Ich nerve gerade, ne?«
    »Schon okay.«
    »Aber ich verstehe nicht, wie man einen Job machen kann, bei dem man täglich riskiert, verprügelt zu werden.«
    »Man macht das ja auch fürs Team. Für die anderen Jungs, mit denen man da steht«, sagte ich. »Die achten auf mich, und ich halte ihnen den Rücken frei.«
    »Also geht es um Verantwortung? Du machst das für deine Freunde?«
    »Freunde ist übertrieben«, sagte ich, schlug die Beine übereinander und strich mit den Fingern über die Maserung meines Stiefels.
    Merle leckte an ihrem Eis. »Und wie ist das, wenn du selbst mal verprügelt wirst?«
    »Nicht so gut.«
    »Wegen den Schmerzen?«
    »Die Schmerzen sind egal«, sagte ich. »Die spürt man kaum. Erst am nächsten Tag. Das hat aber auch was.«
    Wenn ich Merle von meinen Wochenenden erzählte, kam ich mir oft wie ein Kriegsberichterstatter vor, der aus einer fremden Welt berichtete. Einer Welt, die sie nur durch eine beschlagene Scheibe kannte, und ich stand auf der anderen Seite und wischte sie klar, sodass sie einen Blick hindurchwerfen konnte. Ursprünglich hatten wir beschlossen, uns regelmäßig zu treffen, aber meist sahen wir uns nur alle paar Monate auf einen Kaffee oder gingen essen. Sosehr ich Merles |188| Nähe mochte, war doch jedes Mal schnell der Punkt erreicht, an dem ich das Gefühl hatte, in Treibsand geraten zu sein, in etwas hineingesogen zu werden, das ihr mehr Raum zum Atmen ließ als mir. Oft bemerkte ich es erst, wenn ich bis zum Hals drinsteckte.
    »Einmal bin ich mit Flavio und ein paar Kollegen unterwegs gewesen«, sagte ich, »und wir haben zwei Tage lang ohne zu schlafen durchgefeiert. Zu der Zeit haben wir ziemlich viel Speed gezogen, da wirst du halt nicht müde. Wir sind von einem Laden in den anderen gegangen, und irgendwann waren wir knapp fünfzig Stunden ununterbrochen wach, total auf Sendung, und saßen bei irgendjemandem zu Hause. Draußen war es hell. Jalousien waren runter. Wir hatten die ganze Zeit kaum was gegessen, weil man dann auch keinen Hunger hat, haben einen Film nach dem anderen geguckt und immer weiter gesoffen, ohne dass wir noch was davon gemerkt haben. Aber keiner wollte nach Hause gehen.« Enten tapsten um unsere Füße herum, und Tauben und Möwen kamen angeflattert. »Wir waren total dicht, und der Typ, bei dem wir waren, hatte so ein fensterloses Zimmer. Das haben wir leer geräumt, sind rein, Licht aus und los.«
    Nach einem Moment der Stille fragte Merle: »Wie?«
    Ich reagierte nicht, sondern leckte am Eis. Karamell.
    »Dann habt ihr euch gegenseitig geschlagen?«, wollte sie ungläubig wissen. »Und Flavio war dabei? Waren die anderen etwa auch Freunde?«
    »Kollegen.«
    »Und ihr schlagt euch?«
    »Das musste halt irgendwie raus.«
    Die Stirn in Falten, betrachtete Merle ihr Eis von allen Seiten, als würde sie die beste Stelle zum Anlecken suchen.
    »Waren nur Platzwunden und ein paar blaue Flecken«, sagte ich. Um uns herum schnatterten und pickten immer mehr Vögel und machten sich auch an meinen Stiefeln zu schaffen. »Wollen wir mal weiter? Das ganze Flattervieh nervt.«
    |189| »Ihr schlagt euch gegenseitig. So was habe ich ja noch nie gehört«, sagte Merle und erhob sich.
    »Flavio und ich haben früher auch ab und zu ein bißchen Sparring gemacht, geboxt.«
    »Ja?«
    »Na ja, nicht so richtig geboxt, aber wenn wir gestresst waren wegen irgendwas, sind wir ab und zu in den Ring gestiegen. Nur zum Spaß.« Einen Moment lang sah ich Merle an. »Ich zeig dir mal was.«
     
    Wenig später standen wir vor einer Nobelboutique mit Marmortreppchen und einem mit Blattgold überzogenen Schriftzug. Während Merle den Laden beäugte, warf ich den Rest meiner Waffel hinter einen Stromkasten.
    »Was willst du denn hier?«, fragte sie.
    »Dir was zeigen.«
    Als wir das Geschäft betraten, ernteten wir die erwarteten skeptischen Blicke des Personals zwischen den Schaufensterpuppen hindurch. Ich zog meinen Verband zurecht wie einen Krawattenknoten.
    »Hier, guck mal, fünfhundert Euro für die Tasche«, flüsterte Merle im Vorbeigehen.
    »Vielleicht ist ja was Tolles drin«, sagte ich.
    Merle kicherte.
    Über eine Wendeltreppe gelangten wir ins Kellergeschoss. Mitten im Raum zwischen Ständern mit Blusen und Röcken blieb ich stehen und sah mich um.
    »Und jetzt?«, fragte Merle.
    »Hier war vor ein paar Jahren noch eine Kneipe mit Boxkeller. Und hier«, ich deutete auf den Boden, »hier

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