Nachtleben
ungefähr war die Hantelbank, auf der ich Gewichte gedrückt habe.« In dem Moment konnte ich tatsächlich den Schweiß, das Holz und das Gummi riechen. »Und bei den Hüten da hinten war die Umkleide. Und da drüben«, ich ging zwischen Bikini- und Badeanzugständer hindurch, »also hier in etwa war die Mitte des |190| Rings, und hier«, ich machte einen großen Schritt nach links, »hier habe ich Flavio mal aus Versehen die Nase gebrochen.«
Eine aufgetakelte junge Frau in glänzenden Stiefeln und mit Ballonmütze, die außer uns als einzige Kundin im Raum war, schielte zu mir herüber.
»Was war da?«, fragte Merle und deutete auf eine Wand mit Dessous.
»Passt. Da klebte irgendein Tittenposter.«
»Und hier, wo ich stehe?«, fragte sie, aber ich blieb stumm und rieb mir den Nacken.
»Da hing«, sagte ich schließlich leise, »da hing ein blauer Sandsack.«
»Und seid ihr oft hier gewesen?«
»Eine Zeitlang schon.«
»Und fehlt’s dir?«
»Ich weiß nicht.«
»Das weiß man doch«, sagte Merle.
Ich gaffte einer Schaufensterpuppe auf den Hintern und musste an einen One-Night-Stand vor ein paar Wochen denken.
»Man weiß doch, wenn man etwas vermisst«, hakte Merle nach.
Ich wich ihren Blicken aus. »Nicht, wenn man nicht drüber nachdenkt«, sagte ich.
»Und warum denkst du nicht drüber nach?«
Ich nahm ein Seidenhemd mit tuntigen Rüschchen von einem der Ständer und fingerte am Stoff herum.
»Weil du Angst hast, dass du es vermissen könntest, sobald du dran denkst?«
»Vielleicht«, sagte ich.
»Gibt es viele Sachen, über die du nicht nachdenkst?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Und ist es schwierig, nicht über Sachen nachzudenken?«
»Gewöhnt man sich dran«, sagte ich. »Genau wie an das Gelaber an der Tür. Schon okay.«
|191| »Möchtest du mir gerade irgendetwas erzählen, Rick?«, fragte Merle in einem besorgten Ton.
Ich hing das Seidenhemd zurück auf den Ständer.
»In der nächsten Sitzung vielleicht, Frau Doktor.«
Merle schmunzelte.
|192| Dezember 2007
Ein trüber Himmel hing wie eine klamme Decke über dem Vormittag, und sosehr ich es auch versuchte, ich bekam den Kopf nicht drunter hervorgezogen. Nieselregen überzog die Autobahn, den Wagen und den Rest des Tages mit einem schmierigen Film. Das Geräusch der Reifen auf dem feuchten Asphalt verschwamm mit dem plärrenden Radio und dem Keuchen der Lüftung, die trockene Luft zu uns hereinpustete. Ingrid und ich hockten seit knapp einer Stunde in ihrem Auto, und es war, als säßen die Gespenster unserer Kindheit auf dem Rücksitz wie stumme Anhalter, in deren Gegenwart wir nichts Persönliches preisgeben wollten.
»Hier ist Ingrid. Willst du Mama noch mal sehen?«, waren die ersten Sätze, die sie zwei Tage zuvor am Telefon zu mir gesagt hatte. Das Telefonat dauerte nur wenige Minuten. Die meiste Zeit über schwiegen wir, aber gerade in ihrer Stille glaubte ich, Ingrid zu erkennen.
»Das muss schnell gehen. Sie liegt im Krankenhaus in St. Gallen. In der Schweiz. Fahren wir morgen?« Ich brummte nur. »Ich habe ein Auto«, sagte Ingrid.
»Gut«, antwortete ich. »Soll ich erst mit dem Zug zu dir runterkommen in den Süden, oder wo wohnst du?«
Ein leises Schmatzen war zu hören. Ich drückte den Hörer fester an mein Ohr und glaubte, sie an ihrer Unterlippe knabbern zu hören.
»Hallo?«, hakte ich nach und schob ein leises Lachen hinterher, wie man es bei Kindern macht, wenn man etwas aus ihnen herauszukitzeln versucht. »Wo wohnst du denn?«
|193| »Emilienstraße«, antwortete Ingrid tonlos, und ich konnte sie nicht ausatmen hören, als hielte sie die Luft an, um meine Reaktion nicht zu verpassen.
»Emilienstraße?«, wiederholte ich. »Hier in der Stadt?«
Ingrid summte zustimmend.
»Da wohne ich gleich um die Ecke. Das sind keine zehn Minuten.«
»Ich weiß«, sagte sie, bevor das Gespräch wieder in ein abwartendes Schweigen kippte. Erst wollte ich fragen, ob ich hinüberkommen sollte, aber ich brachte es nicht heraus. Diese Frage gehörte in die Zukunft. Eine Zukunft, von der ich schon seit Jahren nicht mehr geglaubt hatte, dass sie Gegenwart werden würde.
Wir verabredeten uns um neun Uhr morgens an einer Tankstelle, bevor wir uns verabschiedeten. Wir sagten nicht
Tschüss,
sondern
Bis dann
, und es fühlte sich gut an.
Anschließend saß ich eine halbe Stunde lang mit dem Telefon auf dem Schoß und der Hand am Hörer in meinem dunklen Flur und starrte die Wand an, ohne zu begreifen, was gerade
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