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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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antwortete: »Oh, dann geh doch nach Hause, Schlampe!«
    Wir kicherten.
    »Ist da ein Kerl mit drin?«
    »Nö«, sagte ich, und die Frau bollerte gegen die Tür. Das Klo neben uns wurde frei.
    Mit der Kante meiner Krankenkassenkarte zerkleinerte ich das Speed und verteilte es auf zwei Lines von der Länge eines kleinen Fingers. Pia fischte einen Zehn-Mark-Schein aus ihrer Hosentasche und rollte ihn zu einem Röhrchen.
    »Willst du zuerst?«, fragte sie.
    »Mach erst mal«, antwortete ich und griff nach meinem Bier. Noch bevor ich zum Trinken ansetzen konnte, hatte Pia sich ihre Portion schniefend in die Nase gezogen. Anschließend wartete sie einige Sekunden ab. Dann gab sie einen Schmerzenslaut von sich, kniff die Augen zusammen, als habe sie auf Eis gebissen, und rieb sich die Nase.
    »Nimm, nimm, nimm!«, sagte sie und hielt mir den Schein hin.
    Von draußen waren ununterbrochen Frauenstimmen und Schritte zu hören. Türen schlugen, und die Musik drang mal lauter, mal leiser zu uns herein. Pia lehnte an der Wand, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke.
    »Meiner Schwester ist mal eine Frau in den Armen gestorben«, sagte sie schließlich.
    »Hast du mir schon mal von deiner Schwester erzählt?«, fragte ich. »Was macht die für einen Job?«
    »Das war nicht auf der Arbeit. Das war auf der Straße.« Ich sah sie abwartend an. »Meine Schwester Rikje war mal an einem Samstagvormittag in der Fußgängerzone unterwegs. War brechend voll. Alle drängeln sich ihren Weg da durch, und irgendwann ist da so eine alte Frau im Pelzmantel. Mitten im Sommer. In der einen Hand zwei Einkaufstüten, randvoll mit zerknüddeltem Zeitungspapier, in der anderen Hand einen leeren Vogelkäfig, wo nur so ein kleiner Spiegel drinhängt, |203| der die ganze Zeit ans Gitter klimpert. Die Frau trippelt mit zerzausten Haaren vor Rikje her, wird dann immer langsamer und bleibt schließlich bei einer Laterne stehen. Rikje will gerade vorbeigehen, merkt aber, dass irgendwas nicht stimmt, und guckt sich die Frau an. Die lehnt mit offen stehendem Mund an der Laterne. Ihr Oberkörper wackelt hin und her, sie stellt den Vogelkäfig ab und legt einen Arm um die Laterne, um sich festzuhalten. Dann geht meine Schwester ein Stück auf sie zu und fragt, ob alles in Ordnung ist. In dem Moment rutscht die Frau an der Laterne runter auf die Knie. Rikje fragt, ob sie einen Krankenwagen rufen soll, und die Alte guckt zu ihr hoch und sagt mit so einer ganz krächzigen Stimme«, Pia machte eine Pause, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und imitierte die Alte: »Ich bin die Glücksmarie.« Sie schüttelte den Kopf. »Die muss völlig neben der Spur gewesen sein. Meine Schwester guckt sich um, aber irgendwie reagiert sonst niemand, also hockt sie sich neben die Frau. Die lässt in dem Moment die Laterne los und lehnt sich an Rikje. Die weiß überhaupt nicht, was sie machen soll, nimmt die Frau also erst mal in den Arm, streichelt ihr über die Haare, guckt sich um, nimmt die Hand der Frau, und die Alte blinzelt, sieht ihr mit einem ganz wachen Blick in die Augen, hat Rikje erzählt, und sagt dann: Danke, dass du doch noch mal gekommen bist, Katharina, macht die Augen zu, atmet einmal wie erleichtert aus und ist tot.«
    In der Nebenkabine rauschte das Wasser, und ich bemerkte, wie ich schon die ganze Zeit Pias Hand hielt und ihre Finger massierte. Ich starrte ihre Fingernägel an.
    Nach einem Moment des Schweigens sagte ich: »Das ist hart.« Speed sickerte in meinen Rachen. »Hat ihr bestimmt gut getan, sich zu verabschieden. Der Alten, meine ich.«
    Nebenan klapperte die Klotür. Eine Weile saßen wir uns stumm gegenüber. Ich bekam das Bild der alten Frau nicht aus dem Kopf und hörte den Spiegel gegen den Vogelkäfig schlagen.
    |204| Ruckartig zog Pia ihre Hand unter meiner weg wie ein Varieté-Künstler eine Tischdecke von einem gedeckten Tisch.
    »Ich habe gar keine Schwester«, sagte Pia grinsend, »aber wäre so was nicht total krass?«
    Sie lehnte sich übers Klo und drückte mir einen Knutscher auf die Stirn. Mein Magen wurde steinhart.

|205| April 1999
    Als ich die Augen öffnete, starrte ich auf ein Paar apfelsinengroße Brüste, das sich offenbar in meinem Bett befand. Das dazugehörende Gesicht war versteckt hinter rostroten lockigen Haaren. Auf dem Arm der Frau entdeckte ich eine unsauber gestochene Tätowierung, die mir genauso wenig bekannt vorkam wie das Perlenarmband, das sie trug. Das Bett roch nach Sex und Schweiß, aber

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