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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ich konnte mich weder an die letzte Nacht noch den Abend erinnern. Irgendwann war ich mit Flavio losgezogen, aber Details fielen mir nicht ein. Die wenigen, undeutlichen Erinnerungen, die ich hatte, konnten auch von einem anderen Abend stammen.
    Mein Rollo war drei viertel heruntergelassen, bewegte sich im Wind hin und her und schabte über die Raufasertapete. Gerade war ich im Begriff, mich aufzusetzen, da wälzte sich die Frau zu mir herum. Ich schloss die Augen und stellte mich schlafend. Einige Sekunden wartete ich ab, zählte meine Atemzüge und spürte eine Sprungfeder durch die Matratze an meiner Wange. Als ich mir sicher war, dass die Frau schlief, öffnete ich meine Augen einen Spalt. Sie war hübsch. Schließlich rutschte ich ein Stück an sie heran und schnupperte. Irgendwie roch sie nach Butterkeks. Auf ihren Wangen hatte sie Sommersprossen, und ihre Lippen verzog sie im Schlaf zu einem Schmollmund, der sich ununterbrochen bewegte, als würde sie einen Kirschkern lutschen. Die Haut um ihren Mund herum war gerötet, wohl von meinen Bartstoppeln. Gleichmäßig hob und senkte sich ihr Brustkorb, und ich konzentrierte mich, bis wir im gleichen Rhythmus atmeten. Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich mir vorstellte, wie |206| es sich anfühlen würde, ihr einen Guten-Morgen-Kuss zu geben oder meine Stirn an ihr Brustbein zu drücken und tief einzuatmen, während sie mich umarmte. Vielleicht würde sie dabei meinen Nacken streicheln, und ihre Finger wären warm von einer Kaffeetasse.
    Sie schlug die Augen auf. Sofort schloss ich meine, bemerkte, wie albern es war, öffnete sie wieder und tat so, als hätte ich nur angestrengt geblinzelt.
    »Morgen«, sagte sie leise und streckte sich.
    »Morgen«, antwortete ich in normaler Gesprächslautstärke und stützte mich auf den Ellenbogen. Sie rieb sich mit der Hand durchs Gesicht, rollte sich zusammen, und bevor ich reagieren konnte, hatte sie sich an mich gekuschelt. Ihre Haare kitzelten an meinem Arm, und ich bemerkte, wie ich ihren Rücken streichelte. Ich sah mich im Zimmer um. Unsere Klamotten lagen über den Raum verstreut, und neben einer halbvollen Flasche Prosecco entdeckte ich zwei benutzte Kondome.
    »Ich hatte echt nicht vor, mit dir nach Hause zu gehen«, sagte die Frau gähnend.
    »Warum nicht?«, brachte ich heraus.
    »Na, ich glaube, ich weiß schon, was du für’n Typ bist.«
    »Warum hast du es denn gemacht?«
    »Keine Ahnung. Alkohol«, sagte sie, aber korrigierte sich sofort: »Nee, Alkohol ist nie eine Entschuldigung.«
    »Aber immer eine Erklärung«, sagte ich.
    Als sie kicherte, schob ich grinsend hinterher: »Man muss sich auch echt nicht dafür entschuldigen, mir einen geblasen zu haben.«
    Mit überraschtem Blick tauchte sie unter der Decke hervor. »Hab ich doch gar nicht.«
    Wir sahen uns starr in die Augen. Auf den Zweigen des Baumes vor meinem Fenster gurrte eine Taube und schlug unter dem Rascheln der Blätter mit ihren Flügeln.
    »War nur Spaß«, sagte ich.
    |207| »War eher so mittel-witzig.« Sie kuschelte sich wieder an und fragte: »Bist du öfter in dem Laden?«
    Ich hatte keine Ahnung, von welchem Laden sie sprach. »Manchmal«, sagte ich.
    »Dein Freund meinte, ihr seid da ganz oft. Das hat mich gewundert, weil ich euch da noch nie gesehen habe.« Sosehr ich auch versuchte, mich zu erinnern, es tat sich nichts. »Den Laden, in dem wir uns getroffen haben, meine ich«, sagte sie, »nicht den, in den wir weitergezogen sind.«
    »Verstehe«, sagte ich.
    Von einem Balkon des Nachbarhauses hörte ich die Mutter der indischen Familie wie üblich ihre Kinder anblaffen.
    »Da habe ich euch noch nie gesehen. Komisch. Und was hattest du gesagt«, fragte sie, »wann musst du heute bei deiner Familie sein?«
    Ohne zu überlegen, sagte ich: »Gegen vier.«
    Sie sah auf ihre Uhr. »Das ist ja noch ein bisschen hin. Ist erst kurz nach elf.«
    »Ja, aber ich wollte vorher noch einkaufen und so.«
    In dem Moment klingelte mein Telefon, und die Frau zog sich die Decke über den Kopf. Einige Sekunden vergingen, während der Anrufbeantworter still meine Ansage abspielte, anschließend piepte es, und ich hörte Flavios Stimme. »Na?«, brabbelte er versoffen. »Und? Ist sie komplett rasiert, oder hatte ich recht? Kasten Bier hatten wir gesagt, ne?«
    Flavio machte eine Pause, und im Hintergrund hörte man Autos vorbeirauschen. Ich schloss die Augen. Unverändert an mich gekuschelt, murmelte die Frau in meinem Bett: »Das ist gerade

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