Nachtleben
zu einer Fratze, ächzt, legt die andere |264| Hand um seine Faust und drückt mit beiden Händen, doch nichts tut sich. Aber er hört nicht auf zu drücken, nimmt sich keine anderen Nüsse, deren Schalen vielleicht brüchiger sind, sondern kneift die Augen zu und drückt, bis sein Kopf rot anläuft, fletscht die maroden Zähne, und ein Quieken entfährt ihm. Ich habe mir eine Fernsehzeitung genommen und starre auf die Seiten, obwohl ich sofort gesehen habe, dass sie bereits zwei Wochen alt ist.
Scheiße
, murmelt Franz, legt die Nüsse auf den Tisch, schüttelt die Hände aus und wirft mir einen fragenden Blick zu. Als ich versuche, sie zu knacken, geben die Schalen sofort nach, und das Innere ist schwarz und verdorrt. Franz sieht mich nicht an.
Der frühe Vogel pickt den Wurm
, höre ich Werners Stimme und denke: Aber der frühe Wurm wird gepickt. Draußen rauscht ein Krankenwagen vorbei, und Blaulicht flackert über die Zimmerdecke.
Mutter
, beginne ich erneut, starre die Wand an und warte, wie ich immer warte. Darauf, dass etwas passiert. Darauf, dass sich etwas verändert. Darauf, dass ich etwas zu fassen bekomme. Was auch immer. Es ist wie mit der Möhre, die am Stock baumelnd vorm Esel hängt. Nur dass im Laufe der Zeit das Bild bis zur Unkenntlichkeit verwaschen ist. Ich habe nicht nur vergessen, ob ich der Esel oder sein Reiter bin, sondern auch, was diese Möhre sein könnte und was es mir anderes einbringen würde, sie zu bekommen, als Stillstand. Mein Blick wandert zum Radiowecker, aber bevor ich die Zeit erkennen kann, schließe ich die Augen und kuschle mich in die Bettdecke. Pia auf dem Beifahrersitz.
Ich bin der König der Straße
, rufe ich, und Pia wirft ihren Kopf in den Nacken und lacht:
Dann mach die Augen zu und gib Gas!
Dabei löst sie ihren Gurt und drückt mit der Hand auf mein Knie. Wir beschleunigen. Pia holt ein Buch aus dem Handschuhfach und schlägt wahllos eine Seite auf.
Was mir diese Welt ist?
, liest sie vor, und bevor sie den Satz beenden kann, antworte ich:
Fünfundsiebzig Prozent des Lebens bestehen aus Sehnsucht, zehn Prozent aus Übersättigung und der Rest aus noch mehr Drogen.
|265| Mehr Stille, denke ich. Mehr. Ganz egal. Nur mehr. Ohne zu wissen, was dieses Mehr sein könnte oder wie es sich anfühlt, und vor allem ohne zu bemerken, ob es jemals mehr wird. Einen Moment lang kämpfe ich mit den Tränen, aber nicht eine will kommen. Zwiebeln schneiden, denke ich. Regen setzt ein und pladdert auf die Windschutzscheibe, aber ich schalte die Scheibenwischer nicht an. Mit halbgeschlossenen Lidern zittert Pia im Sitz, senkt die Lehne, macht sich lang und stößt dabei gegen ihren gläsernen Sarg. Sie atmet aus und presst ihre Stirn gegen das Glas, malt ein Herz in ihren Atem und schreibt Ingrids Namen hinein.
Zerschlag mein Herz
, bittet sie, an ihrer Unterlippe knabbernd, aber ich habe es längst getan. Ich greife mir eine Scherbe aus dem Fußraum. Quer oder längs, denke ich.
Das wäre zu einfach
, seufzt Pia. Blinzeln. Die linierte Wand. Hustend taste ich nach einer Schachtel Zigaretten auf dem Nachttisch, und als ich keine finde, bewegt sich meine Hand wieder Richtung Bierflasche. Aber ich stocke, öffne die Augen und betrachte meine Hand, meinen Arm. Ich halte einen zwanzigjährigen Schwächling im Würgegriff und zerre ihn zum Ausgang des Clubs. Obwohl er sich kaum wehrt, drücke ich ihm die Luft ab, bis er röchelt, und anstatt locker zu lassen, verpasse ich ihm mit der freien Hand einen Faustschlag in die Nieren. Je mehr er winselt, desto höher kocht die Wut in mir, bis es vor meinen Augen flackert. Wären wir allein, ich würde ihm das Gesicht blutig schlagen und ihm dann die Rippen eintreten. Aber im selben Moment sagt diese Stimme in meinem Schädel ein ums andere Mal: Er kann nichts dafür. Wieder und wieder. Trotzdem verpasse ich ihm einen erneuten Schlag in die Nieren und versuche gleichzeitig, mich zusammenzureißen, denn ich weiß, dass er mit dieser Wut nichts zu tun hat. Dann ist es, als ob ein Seilzug reißt und seine Last in die Tiefe stürzen lässt. Kurz atme ich durch und bemerke, dass ich selbst diese Last bin, die ins Bodenlose stürzt. Und ich ahne, dass es kein Ende nehmen wird. Also lockere ich den Würgegriff und schlucke |266| die Wut und den Ärger und sie bleiben mir im Hals stecken, kurz über dem Kehlkopf.
Ingrid
, schreibe ich in die erste Zeile an die Wand,
in deiner Stille will ich sein
. Im nächsten Moment höre ich mich albern kichern und
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