Nachtleben
dass ich ihm eine Zigarette anbot.
Yasemin
, wollte ich sagen, stoppte mich aber und sah stattdessen aus dem Fenster. Schweigend rieb ich mir über den Bauch. Ich hatte zugenommen. Das Mädchen sah mich an, als erwarte sie eine Erklärung. Schließlich sagte ich kaum hörbar: »Das war nur so.«
|261| Seit über fünf Monaten hatte ich nichts mehr von Pia gehört.
»Na los«, sagte der Penner und erhob sich. »Gib ihr das Geld.«
Damit spazierte er an dem Mädchen vorbei zum Ausstieg und deutete einen Klaps auf ihren Hintern an.
Ich rieb mir die Nase, fuchtelte einige Sekunden sinnlos mit den Händen herum, fand keine Worte, die Sinn ergeben hätten, blinzelte und griff in meine Hosentasche.
Vom restlichen Geld ging ich Pommes essen.
|262| morgens
Der Regen an der Scheibe klingt wie rieselnder Sand. Acht Uhr sechsundfünfzig zeigen die LED-Zahlen des Radioweckers. Mein Zeitgefühl habe ich an der Garderobe eines Clubs vergessen. Draußen ist es noch dunkel. Die Lamellen der Jalousie sind auf halb gedreht, das Licht einer Straßenlaterne fällt hindurch und liniert die gegenüberliegende Wand meines Schlafzimmers wie ein Schulheft. Kurz überlege ich, einen Brief an Mutter zu schreiben, aber schon bei den ersten Worten stocke ich.
Liebe Mutter? Mama?
Meine Mundhöhle und meine Zähne sind mit einem Pelz überzogen. Im Liegen nehme ich einen Schluck abgestandenen Bieres aus der Flasche, die neben dem Bett steht. Obwohl mein Körper längst schläft, flirren in meinem Hirn Satzfetzen und Erinnerungen herum, und mein Herz rast, schlägt wie mit einem hölzernen Hammer. Schon zu oft habe ich so dagelegen, als dass mich auch nur einer meiner Gedanken überraschen könnte. Ich schließe die Augen, stehe triefend nass im Regen und forme eine Schale mit meinen Händen, strecke sie aus wie ein Bettler und beobachte, wie sich das Wasser in ihnen sammelt. Schließlich ist sie voll, und ich werfe das Wasser in die Luft, so hoch ich kann, sehe ihm hinterher, bis es für einen Augenblick stoppt, sich in den übrigen Tropfen verliert und zu Boden stürzt. Noch bevor ich es in eine Pfütze klatschen sehe, habe ich die Hände wieder ausgestreckt und schaue zu, wie sie sich mit Regen füllen. Auf meinem Handgelenk bemerke ich die Herzchen-Tätowierung, in der anstelle von Flavios Name Ingrids steht und vom Regen abgewaschen wird. Vom Bett aus blicke ich über den Flur in meine Küche, sehe den Schrank |263| in der Ecke und weiß genau, wie sich das Quietschen des Holzes und das Scheppern des Bestecks anhört, wenn ich eine der Schubladen öffne. Genauso weiß ich, wie die Schubladen in der Küche meiner Kindheit klingen. Nicht weniger genau erinnere ich mich, wie die Schubladen in der Küche klingen, in der Dostojewskis Raskolnikoff das alte Mütterchen erschlagen hat. In all diesen Küchen weiß ich genau, wo ich die Messer oder Töpfe finde, wie ich den Herd anstelle und wie die Wände an einem Abend im August in der Sonne leuchten. Ich habe das Mütterchen durch Raskolnikoffs Augen gesehen, als es zu Boden stürzte, genau wie ich Baader gesehen habe, als er gegen meinen Schrank knallte. Für beide habe ich kein Mitleid empfunden. Bei keiner dieser Erinnerungen spüre ich mehr oder weniger als bei der anderen. Keine scheint wirklicher als die andere. Ich schließe die Augen. Mit dem Daumen kratze ich mir einige Brösel Speed aus der Nase und zerreibe sie zwischen den Fingern, beiße meine Backenzähne aufeinander und kneife die Augen zusammen. Weder bereue ich, das Zeug genommen zu haben, noch nehme ich mir vor, es in Zukunft bleiben zu lassen.
Zombiestunden
nennt Flavio diesen Dämmerzustand, in dem fürs Wachsein die Energie fehlt und fürs Schlafen die Müdigkeit. Aber der Unterschied zum Zombie ist, dass der zumindest etwas in sich spürt, das ihn antreibt. Irgendeinen Drang. Was auch immer es ist. Mit einem Mal sitzt mir Franz auf seinem Sofa gegenüber. In seiner Wohnung ist es eiskalt, weil sie ihm den Strom abgedreht haben. Ich habe meine Jacke nicht ausgezogen, versuche aber, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich friere. Vor Franz auf dem Tisch liegt eine Tüte Walnüsse. Weil er kein Geld für einen Nussknacker verplempern wollte, greift er sich zwei Nüsse mit der bloßen Hand, drückt sie aneinander, und es knirscht, ohne dass die Schalen brechen. Seine Knöchel treten hervor, und die Adern zeichnen sich an seinem Unterarm ab. Für einen Sekundenbruchteil schielt er zu mir herüber, dann verzieht er das Gesicht
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