Nachtleben
drücke, angewidert von mir selbst, das Gesicht ins Kopfkissen. Und dann bemerke ich dieses Schwarze Loch in mir, das seit Jahren alles in sich aufsaugt und verschlingt. Um nicht selbst in ihm zu verschwinden, stopfe ich es voll mit sinnlosem Gelächter und bedeutungslosen Berührungen. Mit durchfeierten Nächten. Doch anstatt sich zu füllen, wächst es nur weiter und wird hungriger. Es wächst, wenn ich meine Wohnungstür hinter einem fremden Menschen schließe, der mich zum Abschied anlächelt. Wenn ich anschließend die benutzten Kondome wegschmeiße. Wenn ich meine Bettwäsche in die Waschmaschine packe und mich frage: Wie viele waren es in diesen Laken? Doch es bleibt unersättlich. Flavio boxt mir zur Begrüßung gegen die Schulter. Ich reiße mir die Fäuste als Deckung vors Gesicht, ducke mich und pendle mit dem Oberkörper hin und her.
Infight, Alter?
, fragt Flavio grinsend und nimmt die gleiche Pose ein. Einen Moment lang tänzeln wir umeinander, bevor er die Arme ausbreitet und wir uns umarmen und auf den Rücken klopfen. Als wir uns voneinander lösen und ich die ehrliche Freude in seinem Gesicht bemerke, fühle ich mich, als hätte ich einem Indianer die Blutsbrüderschaft versprochen, ihm aber stattdessen Glasperlen in die Hand gedrückt, um ihn für mich zu gewinnen. Kurz rolle ich mich in Embryostellung zusammen, finde mich lächerlich und strecke mich, bis die Zehen knacken. Die Erinnerung an meine Kindheit steckt mir in den Knochen wie eine verschleppte Sommergrippe. Ich bin fünf Jahre alt und kann mir die Schnürsenkel alleine zubinden, stehe im Kindergarten, und die ersten Kinder werden von ihren Müttern abgeholt. Während ich mir die Jacke überziehe, sehe ich ihnen hinterher. Schließlich ruft eine der Erzieherinnen:
Alle Kinder, die alleine gehen!
Also setze ich mich in Bewegung. Knapp eine |267| Viertelstunde dauert der Heimweg. Vor dem Kiosk in unserer Straße gehe ich besonders langsam, damit der dicke Kurt mich vielleicht sieht und mir einen Lolly in die Hand drückt. Schließlich schlurfe ich die Treppen zu unserer Wohnung hoch, schließe die Tür auf, trete ein, doch zu Hause angekommen bin ich trotzdem nicht, sondern noch immer unterwegs. Flüchtigkeit, geht es mir durch den Kopf. Wenn ich nichts zu fassen bekommen kann, das sich halten lässt, dann bleibt nichts, als mich an der Flüchtigkeit selbst festzuhalten. Ohne den Dingen und Momenten nachzutrauern. Ohne Selbstmitleid. Ohne Jammern. Ich schlucke und wälze mich auf die andere Seite. Aber es gelingt mir nicht einzuschlafen, bevor mir bewusst wird, dass auch diese Einsicht Teil der Flüchtigkeit ist und nicht neu. Acht Uhr neunundfünfzig. Mir kommen die Zeilen in Erinnerung, die Pia in ihr Büchlein gekritzelt hat, als wir mit einem Kaffee auf meinem roten Sofa saßen, und ich sehe die Worte vor mir an der Wand:
Wir sind eine Handvoll Regen, zurück in den Himmel geworfen, und erwarten den Augenblick, kurz bevor das Fallen wieder beginnt. Diesen einen Moment der Leichtigkeit.
Als ich es nicht mehr aushalte, sie anzustarren, setze ich mich stöhnend im Bett auf, wische mir durchs Gesicht und rüttle die Frau neben mir wach.
»Du musst jetzt gehen«, höre ich mich sagen. »Ich muss gleich zu meiner Familie.«
Noch während sie sich verschlafen die Augen reibt und irgendetwas vor sich hinbrabbelt, ziehe ich die Jalousie hoch.
Wie immer.
|268| Juni 1980
Mutter stand mit blutverschmiertem Gesicht im Hausflur. Ich kauerte in der Küchenecke und sah durch die vorgehängte Kette, wie sie mit der Faust gegen die Wohnungstür bollerte. Die Marquards unter uns pochten zum wiederholten Mal gegen die Decke, als sendeten sie Morsezeichen, und Franz stampfte mit dem Hacken zurück, sodass das Geschirr im Schrank klapperte. Aus dem Kinderzimmer hörte ich Ingrid nach Mutter rufen, wollte zu ihr, aber traute mich nicht an Franz vorbei, der in der Mitte der Küche stand.
Nachdem sich Franz und Mutter erst stundenlang gestritten und angeschrien hatten, hatte er sie quer durch die Wohnung geprügelt, bis sie sich ins Treppenhaus und dann aufs Etagenklo geflüchtet hatte. Nun ließ er sie nicht wieder rein. Sich gegen die Tür pressend, glotzte Mutter mit verheulten Augen durch den Spalt. Die Haare klebten ihr in der Stirn, und an ihren Händen und Armen war Blut. Keine drei Stunden zuvor hatte sie mir eine Tracht Prügel verpasst. Mein Hintern brannte noch immer. Obwohl ich wollte, dass das Ganze aufhörte und Franz sie endlich
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