Nachtmahl im Paradies
Magenverstimmung aus. Wenn Gustave in dem Tempo weitermachte, hatte er, Jacques, spätestens morgen früh ein Geschwür, das sich nur noch operativ entfernen ließ, wenn überhaupt.
»Natürlich, was denkst du denn? So gehört es sich für einen Gentleman. Oder willst du etwa sie fahren lassen?«
Um Himmels willen, nein!, durchfuhr es Jacques. Er an ihrer Seite in Black Beauty, während sie sich nach heruntergefallenen CD s, Handys oder Lippenstiften bückte. Allein die Furcht, diese Frau hinterm Steuer ihres monströsen Riesenponys zu sehen und sich selbst daneben, zur Untätigkeit verflucht und ohne jede Chance, in das Geschehen auf der Straße einzugreifen, würde jedes versöhnliche Gespräch zwischen ihnen sofort im Keim ersticken und für neuen Ärger sorgen.
»Nein, ist schon gut«, stöhnte Jacques, »ich hole sie ab. Sag mir einfach, wann und wo.«
Auf was hatte er sich da nur eingelassen?
Erst als Jacques aufgelegt hatte und von seinem Wohnzimmer über dem Restaurant hinaus auf das feuchte Watt blickte – der Atlantik hielt sich noch immer weit draußen im Ärmelkanal versteckt –, wurde ihm klar, dass er nicht die leiseste Idee hatte, wie er diesen Abend heil überstehen sollte. Abgekämpft von den Ereignissen des noch drohend lange vor ihm liegenden Tages schleppte sich Jacques in seine winzige Küche, die nach hinten auf die Wiesen hinausging. Sie war nicht renoviert worden, seit Elli für immer von ihm gegangen war. Sowohl was die Ausstattung betraf als auch die Optik, entsprach sie in keiner Weise einer Küche, die man mit einem ehemals berühmten Koch in Verbindung bringen würde.
Sei es drum, dachte sich Jacques, der sich aus Schönheit ohnehin nicht mehr viel machte, und warf den primitiven Elektroherd an, um sich ein kleines Mittagessen zuzubereiten. Unten im Restaurant kochte er so gut wie gar nicht mehr. Dafür hatte er Pierre aus der Gascogne, genau genommen aus Condom, einem kleinen, schlauchartigen Städtchen in der Gascogne, wie Jacques zu scherzen pflegte, wenn er ihn auf die Palme bringen wollte. Seit nunmehr fast drei Jahren war Pierre der Chef im Paris . Er war kein besonders guter Koch, und Jacques konnte ihn eigentlich nicht leiden, aber er war relativ preiswert und einigermaßen anspruchslos, und so wurde schließlich doch ein Schuh draus. Wenn Jacques nicht im Paris aß, kochte er für sich selbst. Nur das Allereinfachste, versteht sich. Nach wie vor beherzigte er die Regel einer jeden guten Küche, nach der die einfachsten Rezepte oftmals die allerbesten und überzeugendsten waren. Eine Regel, die er jedoch dahin ausgeweitet hatte, dass jedes der allereinfachsten Gerichte, die er sich selbst in seiner kleinen Küche zubereitete, nicht länger als ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit in Anspruch nehmen durfte.
An diesem Tag haute er sich also ein so zartes wie gaumenschmeichelnd saftiges Steak in die Pfanne, dazu nichts weiter als eine Handvoll marktfrischer Zwiebeln, ein Löffelchen feinstes Olivenöl, ein weiteres Crème fraîche, eine Prise Salz und reichlich grobkörnigen schwarzen Pfeffer. Das Ganze servierte er mit etwas Moutarde de Meaux – dem unübertroffenen Pomméry-Senf – und zur Krönung mit Preiselbeermarmelade, die er in Form eines blutenden roten Herzens auf den Teller laufen ließ. Mehr ergab in einer solchen Küche mit einem derart strengen Timing keinen Sinn. Er wollte das Fleisch selbst genießen. Dazu einen nicht zu kräftigen Bordeaux, weich und rund, der seine Nase von Vanille, Brombeeren und Schokolade träumen ließ. Und zum Nachtisch schließlich – tataaa! – nussgroße, nach einem endlosen Kinder-Sommer-Picknick in der Natur duftende, leuchtend rote Walderdbeeren auf Mousse au Chocolat – wovon er noch ein letztes Schälchen im Kühlschrank gefunden hatte.
Vor unzähligen Jahren, in besseren Zeiten, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, jedem Menschen in seinem näheren Freundeskreis eine Note zu geben – genauer genommen eine Duftnote. Bei besonders nahestehenden Menschen auch eine Geschmacksnote. Wenn Jacques an Elli dachte, verspürte er augenblicklich den Geschmack frischer Walderdbeeren auf der Zunge. Das alles war Urzeiten her, und der Wind der seither verflogenen Jahre hatte ihren Duft, der einst so tief in ihm verankert gewesen war wie das Herz in seiner Brust, davongetragen und aus seiner Erinnerung gelöscht. Um ehrlich zu sein, er wusste gar nicht mehr, ob sie wirklich nach Walderdbeeren geduftet oder geschmeckt hatte.
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