Nachtmahl im Paradies
durch das Dunkel der im Mondschein daliegenden Landstraße nach Hause zu schleichen.
Heute Morgen jedoch fühlte Jacques – abgesehen von schrecklichen Kopfschmerzen – Zweifel in sich aufsteigen. Was, wenn er versagte? Die Zwangsversteigerung würde das schnelle, das endgültige Aus bedeuten, aber möglicherweise auch eine Art Erlösung. Weiterzumachen mit Catherines Geld bedeutete neuen Druck. Es bedeutete, dass er zu seiner Topform zurückkehren oder sogar noch besser würde werden müssen als je zuvor, wenn er das Paris zusammen mit ihr retten wollte – und seinen Ruf wiederherstellen. Die damit verbundene entscheidende Frage, die nun in seinem Kopf hämmerte, lautete: Bin ich dazu überhaupt in der Lage?
Jacques hatte gerade das Frühstück beendet, als das Telefon erneut klingelte.
»Glückwunsch, mein Lieber«, sagte Gustave. »Ich habe mit Catherine gesprochen. Von ihr aus geht der Deal klar, die Einzelheiten müssen wir natürlich noch verhandeln. Ich weiß nicht, was du gestern Abend gemacht hast – aber auf jeden Fall einen guten Eindruck, du alter Schlawiner!«
»Gustave, ich … weiß ehrlich gesagt nicht, ob …«
»… sie den Kaufpreis akzeptiert?«, führte Gustave den angefangenen Satz in eine völlig andere Richtung, als Jacques hatte einschlagen wollen. »Da mach dir mal keine Sorgen, für Catherine ist er so in Ordnung. In den nächsten Tagen müssen wir natürlich noch die Details in Angriff nehmen, aber im Großen und Ganzen steht der Deal. Mein lieber Jacques, wie es aussieht, hast du den Kopf gerade noch mal aus der Schlinge gezogen.«
Jacques seufzte leise in das Telefon. Es war zu spät, die Entscheidung war gefallen. Wenn er jetzt trotz des gestrigen Handschlags einen Rückzieher machte, dann würde er nicht nur sein geliebtes Paris verlieren, sondern auch noch sein Gesicht – und darüber hinaus höchstwahrscheinlich Gustave, einen seiner beiden Freunde.
»Catherine hat übrigens einen Briefumschlag für dich dagelassen.«
»Für mich?«
»Ja, es steht ›persönlich‹ darauf. Am besten, du holst ihn dir heute Nachmittag ab. Dann können wir bei der Gelegenheit gleich die Verträge besprechen.«
Als Jacques den schlanken zwiebelweißen Briefumschlag Stunden später öffnete, zurück in seiner Wohnung über dem Paris , fand er folgende Zeilen auf einem ebenfalls zwiebelweißen Briefbogen, geschrieben mit einem Füllfederhalter in einer großzügig geschwungenen Handschrift:
Kommt, meine Freunde,
noch ist es nicht zu spät, eine neue Welt zu suchen; denn ich will weiter segeln, über den Sonnenuntergang hinaus.
Und obwohl wir nicht mehr die Kraft besitzen, die in alten Tagen Himmel und Erde bewegte, sind wir dennoch, was wir sind:
Noch immer sind wir Helden, deren Herzen im Gleichklang schlagen.
Zwar schwächt das Schicksal uns von Zeit zu Zeit, doch stark ist unser Wille zu streben, zu suchen, zu finden und nicht zu verzagen.
Alfred Lord Tennyson (Engländer, nicht Amerikaner, ups ...)
Der Brief war unterschrieben mit »Catherine« und mit einem charmant hingekritzelten Smiley hinter ihrem Namen versehen. Das also war das Gedicht, das ihn in ihren Augen so perfekt beschrieb. In perfektem Französisch – offenbar hatte sie im Internet eine adäquate Übersetzung gefunden. Mit dem Übersetzungsprogramm von Google hatte sie es jedenfalls nicht zustande gebracht.
Jacques las die Zeilen ein zweites und schließlich ein drittes Mal. Das Gedicht gefiel ihm, irgendwie machte es ihm sogar Mut – und gleichzeitig berührte es ihn, weil diese Frau offenbar in ihn hineinsehen konnte. Er war ein müder, alter Mann, der sich aufgegeben hatte. Trotzdem wollte sie eine nicht unerhebliche Summe in die hochriskante Unternehmung investieren, diesen müden, alten Mann wieder in das zu verwandeln, was er einmal gewesen war. Als wollte sie partout, dass dieser Alfred Lord Tennyson recht behielt. Dass Helden wiederauferstehen konnten – wie einst Phönix aus der Asche.
Unvermittelt fiel sein Blick auf den Aschenbecher auf Ellis Nachttisch im Schlafzimmer, in das er sich zum Lesen des Briefes zurückgezogen hatte. Er starrte auf die dort eingravierte Aufschrift »I ♥ Aschenbecherherz«.
»Elli, wie soll ich das nur schaffen?«, flüsterte Jacques in stiller Verzweiflung und ließ sich auf das Bett fallen, woraufhin ein Geräusch aus seiner Lunge entwich, als wäre er ein Luftballon, dem soeben das gesamte Innenleben entströmte.
Im Restaurant war heute genau wie an den vergangenen
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