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Nachtmahl im Paradies

Nachtmahl im Paradies

Titel: Nachtmahl im Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bennett Ben
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Schmetterlinge aus den geöffneten Buchseiten direkt in sein Gehirn geflogen. Im selben Augenblick schien Jacques sich aufzulösen – von dem staubigen Dachboden zu verschwinden, auf dem er hockte. Um in ein und derselben Sekunde in dem Foto zu landen, an Ellis Seite, an jenem Sommertag des Jahres 1980. Ihrem Hochzeitstag, an dem dieses Foto gemacht worden war. Ein leichtes Zittern erfasste seine Finger, als er die nächste Seite aufschlug:
    Topf & Deckel
    1 Jahr Jacques und Elli
    Nur gut, dass er sich allein hier oben auf dem Dachboden aufhielt, denn er konnte nicht das Geringste dagegen unternehmen, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Es war überwältigend. Auch wenn er sich beim besten Willen nicht an dieses Büchlein erinnern konnte – an das Foto dafür umso intensiver. Unser Glück hat sich in all den Jahren nie abgenutzt, dachte Jacques. Schwere Zeiten hatten ihm nichts anhaben können und gute Zeiten hatten es nicht zu verderben vermocht. Es war noch immer so frisch und unversehrt wie dieses Foto.
    Erneut blätterte er um. Vor ihm lag die erste Doppelseite.



»Was das Salz ist für die Suppe,
ist die Liebe für das Leben:
unsichtbar, und doch die wichtigste Zutat.«
    MARQUIS FRÉDÉRIC FLAUBERT
GOURMET

Zärtlich fuhr Jacques mit der Hand über das Papier, das sich warm und weich anfühlte, während er weiterlas.
    Geeiste Liebesapfel-Gemüsesuppe
    Man nehme:
    300 Gramm reife Liebesäpfel, 1 Salatgurke von etwa 250 Gramm, 1 kleine rote Paprikaschote, 200 bis 250 Milliliter kalte Gemüsebrühe, 1 Teelöffel Weinessig, 1 Esslöffel Leinöl, Knoblauch, Meersalz, jeweils 1 Prise milden gemahlenen Chili und Vanillezucker sowie ein paar Kräuterblättchen zum Garnieren
    Jacques hätte in den Zutaten, den Mengen- und Maßangaben versinken können – für andere mochte es nichts weiter als ein Rezept sein, für ihn jedoch war es die reinste Poesie. Allein das schwache Licht ließ es nicht zu. Behutsam, als handele es sich um einen zerbrechlichen Schatz, klappte er das Büchlein zu. Anstatt wie geplant für eine Gitane hinaus auf den Piratenmast, begab er sich hinunter in seine Wohnung – der Kopf wie in Trance, die Beine wackelig wie Götterspeise. In den Händen, die in diesem Augenblick weder eine Kartoffel schälen noch einen Apfel in der Mitte hätten durchschneiden können, ohne sich vor lauter Aufregung mit dem Messer selbst zu verletzen, hielt er die schmächtige rote Kladde. Der kleine schwarze, lange aus der Mode gekommene Casio-Wecker sah ihm hinterher, während er vergessen im Halbdunkel zurückblieb – auf dem staubigen Holzboden neben der Umzugskiste, in der er unzählige trostlose Jahre verbracht hatte. Auch sein Gesicht hatte sich erhellt, endlich war Bewegung in sein Leben gekommen. 01 : 22 Uhr vermeldete er, zwar nicht korrekt, dafür aber mit neuem Antrieb und einer gänzlich neuen Einstellung.
    Am Abend wartete Jacques, bis es kurz nach halb zwölf war und sein wie immer etwas lustloser Chefkoch Pierre mit seiner Vespa davongebraust war. Früher war der Betrieb im Paradies im Hochsommer nicht vor ein Uhr nachts zum Erliegen gekommen. Davor war an Feierabend gar nicht zu denken gewesen – aber heute war eben nicht früher. Sie machten schwere Zeiten durch, doch an diesem Abend kam es Jacques nicht ungelegen. Nachdem er sämtliche Türen verschlossen und das Licht im Restaurant gedimmt hatte, begab er sich an den Platz, der ihm früher nicht weniger als sein persönliches Mekka gewesen war: die Küche. Vorsichtig wie ein Neugeborenes legte er das Büchlein mit dem Samtumschlag auf der marmornen Arbeitsfläche ab und schlug es ehrfürchtig auf.
    »Geeiste Liebesapfel-Gemüse-Suppe«, las er langsam Wort für Wort, als könne er auf diese Weise jeden einzelnen Buchstaben auf der Zunge schmecken.
    Sich sicher wähnend, dass niemand außer ihm anwesend war und die heilige Zeremonie stören konnte, machte er sich an die Arbeit. Er befeuerte den erloschenen Gasherd von Neuem, nahm das einzige Messer zur Hand, das wie ein Pokal an der Wand hing, anstatt wie die anderen Schneidhilfen in einem der Messerblocks zu stecken. Niemand außer ihm durfte dieses Messer benutzen. Auf der Klinge, die viele Jahre lang scharf gewesen war wie eine Rasierklinge und die sich heute, in dieser stillen und heiligen Nacht, nach einer Zwangspause von mehreren Jahren, ein wenig stumpf anfühlte, waren der Name Jacques Persil und daneben ein Stern eingraviert. Elli hatte es ihm geschenkt, kurz nachdem er den

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