Nachtmahl im Paradies
auf. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Herzchakra war, aber es klang verdächtig nach Selbstfindung, Vergangenheitsbewältigung und sich seinen Dämonen stellen. »Sehr schön, dann will ich euch nicht weiter stören. Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um mir die Sache mal anzusehen. Sozusagen als passiver Beobachter. Ich werde mir einfach einen Stuhl schnappen und euch nicht weiter stören!«
Kaum hatte er Catherine erreicht, fiel sein Blick in den nun offen wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm liegenden Raum. Es war ein weitläufiger Saal, irgendwo zwischen Unterrichtsraum für eine Schulklasse und kleiner Sporthalle. Vor Jacques’ Augen saß – eine einzige Person! Sie wirkte winzig und verloren in dem Saal. Es war Patrice im Schneidersitz – dem Lotussitz für blutige Yoga-Anfänger, wie Jacques einmal irgendwo aufgeschnappt hatte –, barfuß und in einem hellblauen Trainingsanzug mit orangefarbenen Streifen, der noch aus den Siebzigern stammen musste.
» Bonsoir , Jacques«, sagte sein Leibarzt und senkte, die Hände vor der Brust gefaltet, den Kopf, als wäre er Buddha höchstpersönlich. Die Erleuchtung, die ihn durchdrang, war ihm deutlich anzusehen.
»Ja, dir auch einen guten Abend«, entgegnete Jacques und hielt Ausschau nach einer Sitzgelegenheit. Im hinteren Teil des Saals entdeckte er Holzstühle, die aufeinandergestapelt waren.
»Leider habe ich meine Sportsachen vergessen«, ergänzte er, an Catherines Adresse gewandt. »Aber beim nächsten Mal bestimmt.«
Sie schaute ihn kopfschüttelnd an.
»Nun sei keine Spielverderber. Du kannst dir mit Patrice eine Matte teilen, sie ist groß genug.«
Tatsächlich. Die Matte von Patrice war keine der üblichen Yoga-Unterlagen, sondern sah eher aus, als hätte er sie eigenhändig aus einer Rolle Dachpappe zugeschnitten, die er noch von der letztjährigen Wärmeisolierung seines Hauses auf dem Dachboden übrig hatte.
Einladend klopfte Patrice auf den Platz neben sich – wie bei dem Spiel »Mein rechter, rechter Platz ist frei«. Jacques wand sich, aber was sollte er machen? Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich hinzusetzen. Falls sie nun noch darauf bestand, dass er sich bis auf die Unterhose auszog, würde er aufstehen und gehen. Einfach so. Aber offenbar hatte sie nichts dergleichen vor.
»Jacques, sei einfach nur du selbst, ja?«, erklärte ihm Catherine. »Eins mit deine Körper.«
Ja, das hatte er schon mal gehört. Sie lächelte ihn sanft und freundlich an, in ihrem eleganten Lotussitz, die zwei Männer im Schneidersitz vor sich – um gleich darauf den Blick an die Decke zu richten, während sie die Arme mit nach oben geöffneten Handflächen ausbreitete, als erwarte sie, dass in der nächsten Sekunde himmlisches Manna von dort oben herabregnete.
»Und nun, liebe Teilnehmer, bereiten wir uns auf die nächste Übung vor: die Sonnengruß!« Catherine sagte es, als säße sie tatsächlich vor einer Gruppe von zwanzig oder dreißig Yogis, die ihr andächtig die Worte von den Lippen ablasen. Die Macht der Imagination. Diese Frau beherrschte sie, keine Frage.
Kaum eine Stunde später waren sie alle in einen Zustand der Zufriedenheit, Glückseligkeit und totalen Untätigkeit gelangt. Einen Zustand, den Catherine als sattva bezeichnete – was Jacques wiederum daran erinnerte, dass er keineswegs satt war , sondern ein riesiges Loch in seinem Magen verspürte. Auf einmal hatte er sogar Lust, sie zum Essen einzuladen. Zu Hause, in seiner Wohnung über dem Restaurant etwas für sie zu zaubern – begleitet von einem schönen Fläschchen Wein. Doch es ging nicht. Er musste noch für Elli kochen.
»Und, hat es dir gefallen? Kommst du nächste Woche wieder?«, fragte Catherine ihn wenig später im Flur. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein leichtes weißes Baumwollkleid. Sie sah überhaupt nicht aus wie ein Wolf. Wenn schon, dann wie ein Wolf im Schafspelz. Die Blockflöte war mittlerweile verstummt.
»Nun, es war … interessant«, druckste er herum.
»Du Lügner, es hat dir nicht gefallen!« Sie boxte ihm mit ihrer kleinen Faust gegen die Schulter.
»Doch, es … ich meine nur: Solange es bei den Atemübungen und Sonnengrüßen bleibt und nicht in Gesprächstherapie oder Vergangenheitsbewältigung ausartet, könnte ich mir vorstellen wiederzukommen.«
Sie sah ihn ernst an.
»Manchmal ist Sprechen oder, wie du sagst, Vergangenheitsbewältigung wichtig, Jacques«, erklärte sie. »Damit die Geister der Vergangenheit ruhig
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