Nachtmahl im Paradies
begriffen. Wenn alles im Leben nach dem richtigen Zeitpunkt ginge, würde jeder erst dann Kinder in die Welt setzen oder seine Träume verwirklichen, wenn er mindestens eine Million Euro auf dem Konto hatte. Was für die meisten in einem Wort bedeuten würde: nie. Im Gegenteil, das wahre, ungeschminkte Leben, das nahezu jeder Mensch führte – in der Normandie, in Paris, in ganz Frankreich, ja, überall auf der Welt und möglicherweise sogar dort draußen im Universum –, folgte einem anderen Plan. Es basierte in der Regel auf einer Ansammlung fragwürdiger Entscheidungen zum vermeintlich falschen Zeitpunkt, die sich oftmals erst viel später als das größte Glück herausstellten, das einem überhaupt widerfahren konnte. Dennoch gab man die Hoffnung nie auf, dass einem die Lottogesellschaft doch noch die ersehnte Million überweisen würde – oder dass man ein glückverheißendes Dessert genau wie ein letztes Treffen mit einem geliebten Menschen bis in alle Ewigkeit aufschieben konnte, damit es nicht zu bitter schmeckte, nicht nach Abschied für immer.
Die Schokolade in kleine Stücke brechen und im Wasserbad schmelzen, anschließend mit dem Schneebesen die Eidotter einrühren, Nelkenpfeffer und Zuckerlösung hinzufügen. Die Masse mit Mokka und Bénédictine abschmecken und die steifgeschlagene Sahne unterheben.
Während Jacques sich der simplen Leichtigkeit der Zubereitung des Desserts widmete, ließ er den Abend sowie die Wochen, die hinter ihm lagen, noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Fast erschien ihm seine eigene Geschichte unglaublich. Noch vor einem Monat war er ein gebrochener Mann gewesen. Ein Mann am Rande des Abgrunds, bereit, in die Tiefe zu springen und seinem trostlosen Leben Adieu zu sagen. Und nun applaudierten ihm seine Gäste – Standing Ovations, als wäre er ein Popstar. Dass er hier in der Küche des Paris stand und völlig erschlagen, aber überaus glücklich und zurück unter den Lebenden ein Mitternachtsdessert zubereitete, verdankte er im Wesentlichen einem Menschen: Catherine.
Er musste an ihre erste Begegnung denken. Wie sie ihn von der Straße in das Feld dirigiert hatte – versehentlich natürlich – und wie sie an seine Scheibe geklopft hatte, während er den Knopf heruntergedrückt hatte, um sich vor dieser vermeintlichen Außerirdischen in Sicherheit zu bringen. »Sind Sie heil, Monsieur? Sind Sie heil?« Nie würde er ihre putzigen ersten Worte vergessen. Jetzt, Wochen später, klangen sie auf einmal süß wie die Schokolade, die sich gerade vor seinen Augen im Wasserbad aufzulösen begann.
Auf einmal tippte ihm jemand von hinten zärtlich auf die Schulter. Nun war es also so weit: Elli. Ihre letzten gemeinsamen Augenblicke waren gekommen. Er freute sich unbändig darauf, aber zugleich fühlte er zum allerersten Mal, dass er es würde bewältigen können, ohne sie an seiner Seite zu leben. Auch daran war Catherine nicht ganz unbeteiligt. Trotzdem würde es wehtun, das sagte ihm sein Bauch, in dem sich in derselben Sekunde, als er Ellis Berührung auf seiner Schulter wahrgenommen hatte, ein mittelgroßer Wackerstein gebildet hatte.
Langsam schloss er die Augen, damit sie die darin vorzufindende Feuchtigkeit nicht versehentlich der Verzweiflung oder Traurigkeit zuschrieb. Nein, er war »nur« ergriffen. Von ihr, dem Abend, von Catherine, von allem. Dann drehte er sich zu ihr um, blind wie Stevie Wonder und unwiderstehlich wie Jean Reno.
»Da bist du ja!«, frohlockte er und nahm sie ohne eine Sekunde zu zögern in die Arme. Er drückte sie an sich, so fest er es vermochte, und fuhr ihr mit der Hand, so zart er es vermochte, über den Hinterkopf, durchs Haar. Es roch sogar noch unwiderstehlicher als die feinen Zutaten des Desserts, dessen Duft wie ein warmer Wind durch die Küche wehte. Er war wie in Trance.
Wortlos drückte sie sich an ihn, schlang ihre zarten Arme um seinen Hals.
»Da bin ich«, antwortete sie. »Hmmm!« Offenbar gefiel ihr, was sie hinter seinem Rücken erschnupperte.
Wie in Zeitlupe fuhr er mit den Lippen an ihrem Ohr vorbei und streifte ihre heißen Wangen, um sie schließlich sanft auf ihren leicht geöffneten Mund zu legen.
Es war eine Offenbarung. Ein Kuss, komponiert aus Samt und Seide. »Geh nicht! Bitte!«, flehte er.
»Ich gehe doch nicht«, antwortete sie.
Doch er wusste, dass der Moment gekommen war. Sie wollte ihn nur beruhigen, aber er war stark genug, den Abschied zu verkraften.
»Adieu, Elli«, sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher