Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Gewitterfront beobachtete.
»Sturmbraut«, hatte Großmutter sie einmal scherzhaft genannt, während ihre Eltern sie entsetzt ins Gebet genommen und vor den Gefahren des Gewitters gewarnt hatten. Doch Lorena war überzeugt, dass dies nur für normale Menschen galt. Für einen Nachtmahr war ein Gewitter keine Gefahr. Ganz im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, die Spannung in der Atmosphäre in ihren Adern spüren zu können. Sie war unsichtbare, flüssige Magie, die den Nachtmahr stärkte. Und so war sie vielleicht die Einzige am Hamburger Flughafen, die nicht mit Erleichterung aufatmete, als sich das Unwetter nach Osten verzog und die Maschine endlich starten konnte.
Nun ging es bereits auf elf Uhr zu, und Lorena sehnte sich nach nichts mehr als nach der Stille ihrer Wohnung und nach der Geborgenheit, die der kleine Rückzugsort ihr versprach.
Endlich verkündete die Ansage »Notting Hill Gate«. Der Zug kam mit quietschenden Rädern zum Halten. Lorena schulterte ihre schwere Reisetasche und stieg die Treppen aus dem unterirdischen Labyrinth der U-Bahnen hinauf. Frische Nachtluft hüllte sie ein. Für einen Moment blieb sie stehen, schloss die Augen und sog die ersten Atemzüge tief in ihre Lungen. Dann beeilte sie sich, die vom Verkehr dröhnende Hauptstraße hinter sich zu lassen und in die Stille von Notting Hill einzutauchen. Zumindest die Straßen mit den viktorianischen Häusern früherer Herrschaften wirkten um diese Zeit wie ausgestorben. Geradezu gespenstisch standen die weiß getünchten Gebäude mit ihren Säulen und Balkonen und den allgegenwärtigen eisernen Gittern zur Straße hin in Reih und Glied da, eines glich dem nächsten, bis sich die Reihe in der Dunkelheit der Nacht verlor. Bäume verstreuten ihr herbstliches Laub auf die breite Straße. Ein Schein von Glanz und Glorie vergangener Zeiten, der gerade mal bis zu den Fassaden reichte. Hinter den herrschaftlichen Häusern verborgen, hatte in den »Mews« und »Closes« das wahre Leben stattgefunden. Noch immer verblüffte der krasse Unterschied, wenn man einen Blick in die Einfahrten warf, die zu den niederen Hinterhäusern führten, wo sich in einfachen Ziegelreihenhäusern die Stallungen befunden hatten und das Personal in kleinen Zimmern hauste. Auch heute gab es hier viele kleine Wohnungen. Die Stallungen waren in Garagen umgebaut worden, die – wie in alten Zeiten – den Wohlhabenden gehörten, die in den Häusern mit den hohen Zimmerdecken zur Hauptallee hin wohnten.
So war es Lorena, als sie in die Portobello Road einbog, als würde sie eine unsichtbare Grenze überschreiten. Das war die Welt der kleinen Leute mit ihren fröhlich bunt gestrichenen Häusern, von denen sich eins ans andere reihte, keines aber dem anderen glich. Mit kleinen Läden und Kneipen und mit Leben auf der Straße.
Mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen strebte sie auf das Haus mit dem Antiquitätenladen im Erdgeschoss zu, hinter dessen Mauern ihr Refugium auf sie wartete.
Plötzlich hielt Lorena inne. Sie ließ ihre Reisetasche zu Boden sinken und starrte zu den Fenstern hinauf, die alle finster hätten sein müssen. Doch was war das? Im ersten Stock war alles dunkel, und auch der Antiquitätenladen von Mr. Gordon lag verlassen da, wie sie es um diese Zeit erwarten würde. Früher hatte er, wie so viele Leute in der Portobello Road, zusammen mit seiner Frau über dem Ladengeschäft gewohnt, doch als sie vor drei Jahren starb, war er zu seiner alleinerziehenden Tochter und deren Kindern ein paar Straßen weiter gezogen und hatte die Wohnung über dem Laden vermietet.
Lorena stand wie angewurzelt da und starrte auf das Licht hinter dem kleinen Dachfenster. Hatte sie vielleicht vergessen, es auszuschalten, als sie sich in der Nacht vor dem Abflug nach Hamburg dort in ihrer eigenen Gefängniszelle eingeschlossen hatte?
Nein, das war nicht möglich. Donnerstag war sie nicht auf dem Dachboden gewesen. Und auch Mittwoch hatte Jason nicht bei ihr übernachtet, wodurch diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig geworden war.
Dann brannte das Licht dort oben seit dem vergangenen Wochenende?
Ein ungutes Gefühl stieg in Lorena auf. Sie wusste, dass das nicht stimmte, und dennoch klammerte sie sich an die Hoffnung, dass das in ihrer Schusseligkeit durchaus möglich wäre, auch wenn sie tief in ihrem Innersten längst wusste, was dieses Licht bedeutete.
Jemand war in ihrer Wohnung. Jemand hatte ihre geheime Zuflucht entdeckt und stöberte womöglich gerade in ihren
Weitere Kostenlose Bücher