Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Besitz, außer ein paar moderneren Möbeln, die er an irgendwelche Bekannte verschenkt hat.«
Lorena nickte stumm, während ihr Blick über den vollgestellten Dachboden glitt. »Wissen Sie, ob die Dinge in irgendeiner Weise sortiert wurden?«, erkundigte sie sich nach einer Weile hoffnungsvoll, doch Frau Sanders schüttelte den Kopf.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, was in den Kisten steckt. Die Möbel, Lampen und Teppiche jedenfalls wurden so zusammengerückt und aufeinandergestapelt, dass sie möglichst wenig Platz wegnehmen. Ich weiß nur, dass in den beiden Kisten dort vorn Kleider sind. Wir hatten vor Jahren ein paar äußerst fleißige Mäuse hier oben, die sich durch den Karton gefressen haben, und da habe ich den Inhalt in neue Schachteln gepackt.«
Lorena nickte. »Danke, Sie sind so fürsorglich.«
Frau Sanders zuckte ein wenig hilflos die Achseln. »Ihre Familie hat mir so leidgetan. So ein Unglück, und dann musste Ihre Großmutter auch noch von der Leiter fallen und sich einen Wirbel brechen. Die Arme. Meine Schwester hat mir erzählt, wie sehr sie zu Anfang mit ihrem Schicksal gehadert hat. Sich nicht mehr selbst versorgen zu können. Und vor allem, nicht mehr für Sie da zu sein. Stattdessen anderen zur Last fallen zu müssen. Nein, das kam sie hart an. Ich habe mich allerdings gefragt, was sie dort im Dunkeln draußen auf einer Leiter wollte. Vielleicht ihre Katze vom Baum holen? Möglich. Meine Schwester sagte mir, dass sie eine Katzenliebhaberin war. Aber nun lasse ich Sie allein. Ich halte Sie mit meinem Geplapper nur ab. Sagen Sie mir, wenn Sie etwas brauchen. Ich bin unten in der Küche. Ich lege Essigfrüchte ein.«
Nach diesen Worten wandte sich Frau Sanders zur Tür. Die Holzstufen knarrten unter ihren Tritten. Dann war es still. Lorena starrte auf die leere Türöffnung. Frau Sanders letzte Anmerkung brannte wie Feuer in ihren Eingeweiden.
Es war Nacht gewesen, als ihre Großmutter von der Leiter gefallen war! Das hatte Lorena nicht gewusst, oder sie hatte es verdrängt, wie so vieles in ihrer Vergangenheit, das schmerzlich für sie war. Zu schrecklich, um es mit sich herumzutragen, ohne daran zu verzweifeln.
Gehörte diese Erinnerung auch dazu? Hatte sie an diesem Abend ihre Großmutter besucht und sie dann in ihrer Gestalt als Nachtmahr von der Leiter gestoßen? Hatte sie das Leben ihrer Mutter und ihrer Schwester und auch die Gesundheit ihrer Großmutter auf dem Gewissen? Aber warum? Sie liebte ihre Großmutter von Herzen. Warum hätte sie ihr etwas antun sollen?
Die Antwort, die sich ihr aufdrängte, gefiel ihr gar nicht.
Ihre Großmutter war die Einzige, die ihr Geheimnis entdeckt und versucht hatte, den Nachtmahr in Fesseln zu legen. Oder zumindest im Zimmer einzusperren. War sie entwischt, als ihre Großmutter nicht da war, und hatte sie sie deshalb von der Leiter gestoßen?
Nein, das passte nicht zusammen.
Oder doch? Sie hatte ihre Mutter im Streit getötet und vielleicht auch ihre Schwester. Zumindest war sie unter ihrer Obhut verschwunden, und ihre Kleider waren am Ufer des Sees gefunden worden. Auch wenn sonst niemand den Verdacht je geäußert hatte, fragte sich Lorena, ob sie Lucy vielleicht in einem Anfall von Eifersucht ertränkt hatte.
Und hatte ihr vorher die Kleider ausgezogen?
Vielleicht habe ich sie überredet, mit mir baden zu gehen.
Und warum wurde dann ihre Leiche nie gefunden?
Lorena schüttelte den Kopf. Sie wusste es einfach nicht mehr. Noch ließ sich die Finsternis nicht durchdringen. Aber vielleicht war das auch ganz gut so.
Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Großmutter zurück und zu dem Sturz, der sie in den Rollstuhl gebracht hatte.
Großmutter hatte versucht, den Nachtmahr zu bändigen, und das hatte ihm nicht gefallen. Nein! Das durfte nicht sein. Ausgerechnet ihre Großmutter?
Warum nicht? Wenn du keine Skrupel hattest, deine Mutter die Treppe hinunterzustoßen und deine Schwester für immer verschwinden zu lassen? Was zählt es da noch, eine alte Frau von der Leiter zu stoßen? Schließlich war das nicht deine letzte schlimme Tat. Das weißt du genau.
Nein!
Doch! Stell dich endlich deiner Schuld. Wieso kannst du dich an das Bild des Unfallwagens erinnern, wenn du doch offiziell niemals da gewesen bist?
Ich habe die Fotos gesehen! Ganz einfach.
O ja, und deshalb hast du auch noch immer diesen schrecklichen Geruch in der Nase, wenn die Bilder in dir aufsteigen. Weil du niemals da gewesen bist?
Ich war es nicht! Ich habe meinen Vater nicht
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