Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
die bestickten Kissen auf das Sofa nieder und nickte zu dem Angebot eines Tees mit Kandis und Sahne, den die Dame des Hauses mit frisch gebackenem Marmorkuchen wenige Minuten später auf einem Tablett hereinbalancierte.
»Nun, meine Liebe, wie geht es Ihnen? Ich weiß, wir kennen uns nicht persönlich, doch Ihre Großmutter hat uns von Ihnen erzählt.«
»Mir geht es gut. Ich lebe seit vielen Jahren in London«, stieß Lorena hervor.
Frau Sanders nickte, als sei dies für sie nichts Neues.
»Sie und Ihr Mann haben das Haus gekauft, als Großmutter damals ins Pflegeheim musste …«, fuhr Lorena fort.
Frau Sanders nickte zur Bestätigung. »Ja, das ist richtig. Holger und ich sind hierher in die Nachbarschaft meiner Schwester gezogen. Sie ist einige Jahre älter als ich und war mit Ihrer Großmutter eng befreundet. Ihre Kinder wurden bereits erwachsen und begannen, das Haus zu verlassen, ja und ich hatte damals die Hoffnung, Kinder zu bekommen, bereits begraben.«
Ein trauriger Zug legte sich über ihr sonst fröhliches Gesicht. »Nun sind meine Schwester und mein Mann tot, und mir bleibt nur noch, die Erinnerungen zu bewahren.«
Das erschien Lorena das rechte Stichwort. »Ich habe Großmutter gestern besucht. Meist ist sie noch recht klar und kann sich an vieles erinnern, doch dann flüchtet sie sich wieder in die Vergangenheit und erkennt die Menschen um sie herum nicht mehr.«
Frau Sanders nickte. »Ja, so war es bei meiner Schwester am Ende auch. Es ist traurig. An manchen Tagen hielt sie mich für unsere Mutter.«
»Gestern schien mir Großmutter ganz klar, und doch behauptete sie fest, dass – nach all diesen Jahren – hier auf dem Dachboden noch immer all ihre Erinnerungen zu finden seien.«
Frau Sanders erhob sich und strich ihr Schürzenkleid glatt. »Ja, so ist es. Alles, was ihr wichtig erschien, hat sie hiergelassen, und wir haben versprochen, es aufzubewahren, bis zu dem Tag, an dem Sie kommen und danach fragen.«
Lorena wusste nicht, was sie sagen sollte.
Frau Sanders lächelte. »Nun kommen Sie! Ich zeige Ihnen den Weg. Es gehört alles Ihnen. Nehmen Sie sich Zeit, die Sachen anzusehen und durchzulesen, und entscheiden Sie in Ruhe, was Sie mitnehmen wollen und was nicht.«
Es war eine Reise in eine andere Zeit. Lorena wusste nicht, was sie erwartet hatte, wenn sie überhaupt daran geglaubt hatte, dass es die Sachen ihrer Großmutter hier wirklich noch gab. Ein paar alte Kleider vielleicht, Lieblingsstücke, von denen sie sich nicht hatte trennen wollen und die sie dann im Altenheim doch nicht gebrauchen konnte. Oder Bücher, die sie gelesen und lieb gewonnen hatte. Andenken an Reisen oder Geschenke ihrer Familie, an denen Erinnerungen hingen. Jedenfalls ein paar Schachteln irgendwo verstaubt in einer Ecke, ein kärgliches Überbleibsel eines langen, wechselvollen Lebens.
»Nehmen Sie sich Zeit«, sagte Frau Sanders noch einmal, als sie den Dachboden betraten. Ihre ausladende Geste schien den gesamten hinteren Bereich zu erfassen.
Ein wenig verwirrt sah Lorena sie an. »Welches sind die Kisten meiner Großmutter?«, erkundigte sie sich angesichts des dicht an dicht zugestellten Bodens. Möbel, Kisten und aufgerollte Teppiche türmten sich aufeinander und bedeckten mehr als zwei Drittel der Fläche.
Frau Sanders ließ ein kurzes Auflachen hören. »Die Sachen gehören alle Ihrer Großmutter, und ich denke, sie haben zum größten Teil zuvor Ihrer Urgroßmutter gehört.«
»Sie haben all das über die ganzen Jahre aufbewahrt?«, rief Lorena, die zwischen Überraschung und Entsetzen schwankte. »Das ist ja fast der ganze Hausrat.«
Frau Sanders nickte freimütig. »Das ist wahr. Ihr Vater konnte sich damals nach dem Unfall Ihrer Großmutter nicht recht entscheiden, was er weggeben und was er behalten sollte. Er war – verständlicherweise – nach diesem Jahr voll tragischer Unglücksfälle in Ihrer Familie nicht recht bei der Sache. Ja, ich weiß noch, wie er mit dieser hilflosen Miene durch das Haus ging und mich um meine Meinung fragte, was er mit den vielen Sachen jetzt machen sollte. Der Gedanke, all die Erinnerungen Ihrer Großmutter in fremde Hände zu geben oder gar zu vernichten, behagte ihm nicht. Vielleicht hegte er ja auch noch die Hoffnung, sie würde sich wieder erholen und einige Jahre außerhalb des Heims leben können … Ich weiß es nicht. Jedenfalls bot ich ihm an, alles, was er nicht weggeben wollte, auf den Dachboden zu räumen. Tja, und da liegen sie nun. All ihr
Weitere Kostenlose Bücher