Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Reihe weiterer Kisten, schob die meisten aber wieder an ihren Platz zurück und schrieb in wenigen Stichworten deren Inhalt auf den Deckel. Als Jason zurückkehrte, rückten sie die schweren Möbel weiter nach vorn, um an die Kisten dahinter zu kommen. So werkelten und wühlten sie bis zum späten Nachmittag, doch außer weiteren Fotos und einer kleinen Schachtel mit handschriftlichen Aufzeichnungen fanden sie nichts, was sich sofort mit nach London zu nehmen lohnte.
»Ein paar dieser alten Möbel würden mir gefallen«, sagte Lorena, als sie innehielt und sich den Staub mit einem Taschentuch aus dem Gesicht wischte. »Das Büfett gefällt mir, auch die beiden Sessel und der spindelbeinige Beistelltisch. Die könnte man von einer Spedition abholen und nach London schiffen lassen.«
Jason nickte. »Ja, die sind sehr schön, und mir gefällt auch das niedere Sideboard dort drüben. Ist das Nussbaum? Das Holz ist wundervoll gemasert.«
Lorena stimmte ihm zu. Sie bahnten sich einen Weg bis zur hinteren Wand und schoben die Kisten, die es halb verdeckten, auf die andere Seite. Dann rückten sie es ein wenig von der Wand ab.
»Das ist aber schwer.« Lorena stöhnte und rieb sich den Rücken.
Jason war schon auf die Knie gegangen und zog die Schubladen heraus. Trotz des Alters waren sie nicht verzogen und glitten leicht heraus und wieder hinein. »Wundervoll«, sagte er und drehte den Schlüssel im Schloss der linken Tür. Auch dieses war weder verrostet noch klemmte es. Allerdings fehlte der Schlüssel für die rechte Tür. »Das ist schade. Ich habe nicht viel Hoffnung, dass wir den hier finden«, meinte er und zuckte mit einem resignierenden Blick in die Runde die Achseln.
»Vielleicht passt der Schlüssel von der anderen Tür auch in dieses Schloss?«, schlug Lorena vor. Jason probierte es gleich aus, doch er ließ sich nicht drehen.
»Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht kann man einen nachmachen lassen. Er müsste so ähnlich aussehen wie dieser hier.«
Er stieg über einige Kisten hinweg und legte Lorena den Schlüssel in die Hand. Sie wollte ihn gerade in ihre Tasche stecken, als sie innehielt. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Rasch wich sie unter die trübe Glühbirne zurück, die an einem Kabel von einem der Dachbalken herabbaumelte. Sie griff nach ihrer Handtasche, holte ihren Geldbeutel hervor und zog aus einem Seitenfach zwei Schlüssel heraus. Der eine war viel kleiner als der, den Jason von der Schranktür abgezogen hatte, der andere aber hatte dieselbe Größe. Sie hielt die beiden Schlüssel nebeneinander.
»Das könnte er sein«, sagte Jason verblüfft. »Woher hast du ihn?«
»Den hat mir meine Großmutter vor vielen Jahren gegeben – als sie nach ihrem Unfall ins Krankenhaus musste. Sie sagte, er sei wichtig für mich, und ich solle ihn nicht verlieren.«
Lorena bahnte sich einen Weg zu dem Sideboard und schob mit feierlicher Miene den Schlüssel ins Schloss der rechten Tür. Er ließ sich ganz leicht drehen. Mit einem kaum merklichen Klicken entriegelte das Schloss, und die Tür sprang auf. Mit zitternden Händen zog Lorena sie auf, bis der Lichtschein ins Innere strömte. Ihre Finger umschlossen eine hölzerne Truhe. Wie einen Schatz hob sie sie vorsichtig aus dem Schrank und trug sie ins Licht. Sie war wundervoll gearbeitet und sicher sehr alt. Auch das Schloss schien ein Meisterwerk längst vergessener Schmiedekunst zu sein.
»Ich glaube, nun weißt du auch, wohin der zweite Schlüssel gehört«, sagte Jason, dessen Stimme ebenfalls vor Aufregung zitterte.
Lorena schob vorsichtig den kleineren Schlüssel in das Schloss und drehte ihn ganz langsam, bis sie einen Widerstand spürte. Sie holte tief Luft, dann drehte sie weiter. Der Deckel hob sich, und die beiden starrten auf Hunderte kleiner roter Pillen, die in einem Bett von schwarzem Samt die Truhe bis unter den Deckel füllten. Lorena griff eine davon heraus und legte sie in ihre Handfläche.
»Ich erinnere mich«, sagte sie leise. »Großmutter hat sie mir gegeben.«
»Und was haben sie bewirkt?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe mich in der Zeit seltener gewandelt. Ich habe mich gut gefühlt. Ich denke, ich sollte es einfach ausprobieren.« Und ehe Jason sie davon abhalten konnte, steckte sie das rote Kügelchen in den Mund und schluckte es.
Kapitel 20
GUARDIAN
»Was ist?«, erkundigte sich Jason mit Sorge in der Stimme.
Lorena stand wie eingefroren da, ihr Blick war erstarrt. Dann lief ein
Weitere Kostenlose Bücher