Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
keine Zeit!, schimpfte eine Stimme in ihr.
Dafür ist immer Zeit, entgegnete das nächtliche Wesen, gab aber nach.
»Rutsch rüber. Jetzt fahre ich!«
»Bist du sicher?«, fragte Jason.
»Traust du mir etwa nicht? Warte es ab, wir sind in null Komma nichts in Hamburg!«
»Oder im Straßengraben«, murmelte Jason, nachdem er auf den Beifahrersitz gerutscht war und Lorena mit quietschenden Reifen und schlingerndem Heck auf die Straße zurückkehrte.
»Entspann dich«, rief sie heiter. »Oder schlaf ein wenig. Ich bin jetzt gar nicht mehr müde.« Schwungvoll nahm sie die Auffahrt zur Autobahn und querte mit heulendem Motor auf die linke Spur, ohne sich darum zu kümmern, dass Jason sich am Türgriff festklammerte und leise stöhnte.
Mit einem hatte Lorena recht: Flott voran kamen sie wirklich. Lorena ließ keine Lücke ungenutzt und holte aus dem Wagen heraus, was der Motor zuließ. Dass der Spritverbrauch nach oben schnellte, kümmerte sie nicht. Jason konnte sich zwar nicht so weit entspannen, dass er hätte schlafen können, doch immerhin ließ seine Verkrampfung nach, als er ihre schnellen Reflexe beobachtete und sah, wie sicher sie auch mit hohem Tempo umging. Da sie die Geschwindigkeitsbegrenzungen sehr locker auslegte, konnte er nur hoffen, dass ihre scharfen Sinne sie auch vor möglichen Radarfallen warnten.
Eine Stunde später erreichten sie Hamburg und suchten sich ein einfaches Hotel, da sie um diese Zeit draußen auf dem Land sicher keinen Hauswirt mehr wach antreffen würden. Lorena wandelte sich zurück und begleitete Jason in ihrer unauffälligen Gestalt auf ihr Zimmer. Nun griff wieder die Müdigkeit nach ihr, und sie schlief mit einem Seufzer in seinen Armen ein, kaum dass er die Decke über sie gebreitet hatte.
Lorena war ein wenig nervös, als sie am späten Vormittag das Seniorenheim betraten, doch ihre Sorge um den Zustand ihrer Großmutter erwies sich als unbegründet. Else Maschek begrüßte Lorena mit einem überraschten Ausruf und strahlte vor Freude, als ihre Enkelin sie umarmte.
»Hattest du erwähnt, dass wir uns so schnell wiedersehen?«, erkundigte sie sich.
Lorena schüttelte den Kopf. »Ich wusste ja selbst nicht, dass es mir möglich sein wird, so bald schon wieder hier zu sein.«
Sie überreichte ihrer Großmutter ein Paket mit Tante Rubys selbst gekochter Erdbeermarmelade, die sie ihr bei ihrem letzten Besuch in Oxford aufgedrängt hatte, und einigen Romanen in Großdruck, die Else Maschek erfreut entgegennahm.
»Ich wollte, dass du Jason kennenlernst«, sagte sie, als ihre Großmutter von ihren Mitbringseln aufsah. Lorena winkte ihn heran. Jason reichte der alten Frau die Hand und stellte sich höflich vor.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Maschek«, sagte er.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich heiße Else. Und ich hoffe sehr, dass Sie meiner Kleinen Glück bringen, denn das hat sie auf alle Fälle verdient!«
»Das hoffe ich auch, Else. Noch mehr Glück, als sie mir jetzt schon geschenkt hat.«
Else Maschek nickte mit einem Lächeln. Offensichtlich war sie mit seiner Antwort zufrieden. »Sie hat es nicht leicht gehabt«, sagte sie sanft und sah Lorena bedeutungsvoll an.
»Er weiß es«, sagte sie.
Else Maschek hob überrascht die Augenbrauen. »Alles?«
»Soweit ich von mir behaupten kann, alles zu wissen«, bestätigte Lorena.
»Und Sie kommen dennoch zu mir, um sich mir vorzustellen? Jason, nun muss ich Lorena wohl glauben, dass sie an einen außergewöhnlichen Menschen geraten ist, wenn Sie dieses Schicksal mit ihr tragen wollen.«
Jason wirkte ein wenig verlegen. »Es ist ganz einfach. Wir haben uns ineinander verliebt, und wir nehmen uns an, so wie wir sind, mit unseren Stärken und unseren Schwächen.«
Am Nachmittag machten sie sich dann zu Else Mascheks altem Häuschen auf, um sich ihren Besitztümern auf dem vollgestellten Dachboden zuzuwenden. Frau Sanders begrüßte sie freundlich. Sie hatte wieder Kuchen gebacken und nötigte die beiden, zuerst Tee mit ihr zu trinken und ihren Kirschkuchen zu probieren, ehe sie sie auf den Dachboden führte und dort allein ließ.
Jason ließ den Blick schweifen. Ein Ausdruck komischer Verzweiflung stahl sich in seine Miene, doch er fragte tapfer: »Wo fangen wir an?«
Lorena schlug vor, die Schachteln mit den Fotos und Briefen gleich ins Auto hinunterzutragen und auch die Kiste mit den geheimnisvollen alten Büchern, die vermutlich Elses Mutter gehört hatten. Derweil öffnete Lorena eine
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