Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
großer, goldener Knöpfe.
Lorena glaubte, so etwas wie Verachtung in ihrem Blick zu erkennen. »Ich dachte, für einen Besuch bei einer Lady sollte es etwas Seriöses sein«, verteidigte sie ihre Kleiderwahl.
»Wenn das Jackett jetzt noch ebenfalls schwarz wäre, dann könntest du glatt als eine ihrer Hüterinnen durchgehen«, sagte Raika und wurde sofort mit Fragen bestürmt.
»Eine Hüterin? Was ist das? Was tun sie für die Lady?«
Doch Raika warf ihr statt einer Antwort ihre Lederjacke zu. »Da, zieh dir was Rechtes über, damit du auf der Fahrt nicht frierst.«
Sie eilte vor Lorena die Treppe hinunter. Unten auf der Straße stand ein schweres, schwarz lackiertes Motorrad. Natürlich, das passte zu Raika, und es wunderte Lorena auch nicht, dass Raika keinen Helm dabeihatte. Sie schlüpfte nur ebenfalls in eine Lederjacke, dann schwang sie sich in den Sattel.
»Auf, worauf wartest du? Du hast doch gerade noch gedrängt, Mylady noch heute Nacht kennenzulernen. Bekommst du jetzt kalte Füße? Das ist gar nicht so falsch. Es ist ein großer Fehler, sie zu unterschätzen. Also, wenn du lieber hierbleiben willst …?«
»Meine kalten Füße beziehen sich höchstens auf die Fahrt mit deinem Motorrad«, murmelte Lorena und schwang sich hinter Raika auf den Sozius.
»Halte dich gut fest«, sagte diese und lachte auf. »Ich bin eine rasante Fahrerin.«
»Das habe ich befürchtet.« Lorena stöhnte, und schon heulte der Motor auf, und die Maschine schoss die Portobello Road entlang.
Sie brauchten nicht einmal eine Stunde bis nach Oxford, was Lorena bei der Fahrweise nicht wunderte. Ein paar Mal schloss sie schaudernd die Augen, wenn Raika in haarsträubenden Manövern alles überholte, was in ihren Augen zu langsam unterwegs war, und das traf auf so gut wie jeden Verkehrsteilnehmer auf Englands Straßen zu. Immerhin schien sie die Maschine virtuos zu beherrschen, sodass sich Lorena langsam entspannte und dann die Fahrt sogar ein wenig genießen konnte. Es war ein wenig wie fliegen, und es war schwer, sich dem Rausch der Geschwindigkeit zu entziehen. Sie verstand, dass die Biker ihre Motorräder als ein Stück Freiheit empfanden, selbst wenn sie nicht so fuhren wie Raika!
Der zweite Vorteil für Raika bestand – außer der Geschwindigkeit, in der sie vorankamen – darin, dass man sich während der Fahrt unmöglich unterhalten konnte. So blieb sie bis Oxford von Lorenas bohrenden Fragen verschont.
Sie streiften die Stadt mit ihren altehrwürdigen Colleges nur und brausten einen schmalen Weg entlang. Über die saftig grünen Spielplätze der Cricketmannschaften von Christ Church hinweg erhaschte Lorena einen Blick auf die altehrwürdige Christ Church Cathedral, das Merton und das Corpus Christi College. Auf der anderen Seite breiteten sich mit alten Bäumen umstandene Wiesen aus, die der Regen der letzten Tage in eine im Nachtlicht schimmernde Sumpflandschaft verwandelt hatte. Das Motorrad brauste über die Brücke, die den Cherwell überspannte, und folgte dann der Clements Street. Lorena erhaschte einen Blick auf das Haus ihrer Tante. In einem Fenster brannte Licht. Sie war zu Hause. Natürlich. Wo sollte sie an so einem Abend sonst sein?
Dann ließen sie die Stadt hinter sich und folgten der Flussaue nach Norden. Kaum ein paar Minuten später drosselte Raika den Motor. Ein verwittertes Schild flog vorbei. Raika bremste, dennoch reichte ihre Geschwindigkeit noch aus, dass das Hinterrad herumschwang, als sie in den schmalen Weg einbog. Die alten Bäume, die mit ineinander verschränkten Ästen zu beiden Seiten Spalier standen, ließen die Straße noch schmaler wirken, dennoch gab Raika wieder Gas, und Lorena konnte nicht verhindern, dass sie vor Anspannung die Luft anhielt. Sie nahm ein mächtiges, schmiedeeisernes Tor wahr, das in einer Mauer verankert war und dem sie sich beängstigend schnell näherten. Lorena kniff vor Entsetzen die Augen zu, als Raika hart bremste und die Maschine so herumriss, dass sie kaum einen halben Meter neben dem Tor zum Stehen kamen.
»Das war ein Ritt!«, rief Raika aus, und es klang wie ein Jauchzen. Sie stellte die schwere Maschine auf und schwang sich aus dem Sattel. Lorena folgte ihr, doch ihr war nicht nach Jauchzen zumute. Ihre Knie fühlten sich ungewöhnlich schwammig an, und sie musste erst wieder zu Atem kommen, ehe sie in der Lage war, etwas zu sagen. So ließ sie nur stumm den Blick die fast drei Meter hohe Mauer entlangschweifen, über der sich alte Eichen und eine
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