Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
davon. Allmählich ließ die Wirkung des Baldrians nach, und sie konnte wieder frei ausschreiten, ohne zu taumeln. Sie spürte Noahs Blick in ihrem Rücken, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war, doch er folgte ihr nicht. Vielleicht war er zur Vernunft gekommen, vielleicht wirkte ihre Macht noch immer ein wenig – so genau wusste Lorena das nicht.
Nein, Noah kam ihr nicht nach, doch wieder hatte sie das Gefühl, als würde ihr jemand folgen. Jemand, der sie bei ihrer Auseinandersetzung mit den Männern genau beobachtet hatte. Lorenas Sinn war wieder klarer, und so schickte sie ihn aus, das Wesen zu ergründen, das ihr da nachstellte. Ihre Ahnung traf auf feine Gespinste und fing die Stimmungen ein. Was waren das für Gefühle? Neugier und Interesse, ja, aber auch düstere Begierde und andere dunkle Gefühle wie Zorn und die Lust zu zerstören.
Plötzlich schien so etwas wie Misstrauen die anderen Empfindungen beiseitezuwischen. Lorena drehte sich blitzschnell um, doch der Schatten war bereits gewarnt und löste sich in der nächtlichen Dunkelheit auf.
Da war nichts. Lorena sandte noch einmal ihre Instinkte aus, doch sie fanden niemanden. War das doch nur die Nachwirkung des Baldrians gewesen? Bildete sie sich etwas ein? Lorena war sich nicht sicher. Nachdenklich setzte sie ihren Weg fort.
Am Donnerstag spielte Jason mit dem großen Orchester in der Cadogan Hall. Das graue Gebäude mit seinem Glockenturm und den neoromanischen Rundbögen mutete ein wenig wie eine Kirche an und war für seine fantastische Akustik berühmt. Es fügte sich gut zwischen den fünfstöckigen viktorianischen Wohnhäusern ein, deren frisch renovierte Backsteinfassaden in warmen Rottönen leuchteten.
Jason hatte Lorena eine Karte für das Konzert besorgt, und sie freute sich, ihn an diesem Abend mit seinem Cello erleben zu dürfen. Ganz seriös in einen dunklen Anzug gekleidet, das Haar sorgfältig gekämmt, saß er mit seinem Cello zwischen den Knien da. Selbst sein Gesichtsausdruck hat sich dem Anlass und der Musik entsprechend verändert , dachte Lorena, als sie sich ein wenig vorbeugte und Jason betrachtete. Er war so ernst, so konzentriert, sein Ausdruck war geradezu feierlich. Ganz anders, als wenn er mit den Jungs im Mau Mau Musik machte. Mit der Jazzband war seine Miene voller Leben. Er lächelte den anderen zu, wenn er das Saxofon für einen Moment absetzte, feixte und schnitt Grimassen. Selbst sein Oberkörper wiegte sich im Rhythmus der Musik. Natürlich saß Jason auch hinter seinem Cello nicht einfach steif da, doch die Bewegungen, mit denen er den Schwung seines Bogens unterstützte, hatten eher etwas Erhabenes.
Lorena unterdrückte einen Seufzer. Sie liebte beides. Den freien, lebensfrohen Jazz und die ernste Klassik, in deren brausende Klänge eingehüllt Jason ihr noch schöner und begehrenswerter erschien. Ihr Herz wiegte sich in der Musik, schwang sich mit den gewaltigen Wogen auf und tanzte auf den Wellen, nur um dann wieder in ein tiefes Tal hinabzugleiten, umbraust vom Sturmwind. Die dramatischen Klänge zerrten an der Seele und quälten sie, bis sie glaubte, es nicht länger ertragen zu können. Ein letzter Mollakkord, der Leib und Seele erzittern ließ, dann war der Sturm vorüber. Der Wind fiel in sich zusammen, die düsteren Wolken rissen auf. Jubilierend schwangen sich die Töne in flinken Läufen auf, glitten im Sonnenlicht auf weißen Schaumkronen dahin und umschmeichelten die Seele. Ein Fest der Sinne, eine wahre Symphonie des Lebens.
Es war noch nicht elf, als Jason aus der Garderobe kam und Lorena umarmte. Er küsste sie zärtlich. »Und? Hat es dir gefallen?«
Lorena strahlte. »Es war traumhaft. Ich hätte noch ewig deiner Musik lauschen können.«
»O ja, weil das Cello das ganze Konzert allein bestritten hat!«, neckte der Kollege mit der Oboe, der gerade vorbeikam.
Lorena spürte, wie sie rot wurde. »Das wollte ich so nicht sagen, aber …«
Er unterbrach sie und feixte: »Aber Sie meinen, dass das Orchester heute ohne Jason aufgeschmissen gewesen wäre. Und natürlich haben Sie recht. Was wären wir ohne unser Cello!«
Sie lachten alle drei. Der Musiker nickte Lorena zu und stellte sich als Charles Randell vor.
»Kommt ihr noch mit was trinken, oder wollt ihr Turteltäubchen lieber allein sein?«
Auch wenn Lorena ihn lieber für sich gehabt hätte, stimmte sie dem Vorschlag zu. So konnte sie sich in einer Stunde vielleicht einfacher aus dem Staub machen.
»Gut, wo gehen wir
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