Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
den unteren Holm, während die andere am oberen blieb. Hohe Wende. Eigentlich ganz einfach. Ich musste nur beide Beine strecken und in einem eleganten, hohen Bogen über die Holme schwingen, um dann neben dem Barren auf der Matte zu landen.
Ich wippte ein wenig mit den Beinen. Es fühlte sich an, als hätte ich Blei in den Füßen. Und von Spannung war auch nichts zu spüren. Dafür spürte ich, wie meine Hände schweißnass und immer rutschiger wurden. Ich starrte nach unten auf die Matte.
Was, wenn ich nicht genug Schwung holte? Wenn ich die Beine zu locker ließ und am unteren Holm hängen blieb? Was, wenn ich sie gar anziehen würde und mit den Schienbeinen auf die Stange knallte? Ich hatte gesehen, wie so was aussieht! Melanie war das im letzten Jahr passiert. Sie war drei Wochen mit schillernd farbigen Schienbeinen rumgehumpelt. Ich merkte, wie sich der Schweiß nun auch auf meiner Stirn sammelte. Ich begann zu zittern und spürte, wie mir der Holm schmerzhaft in die Eingeweide drückte.
»Lorena, wird das heute noch was? Die anderen wollen auch noch drankommen!«
Das bezweifelte ich. Melanie würde mir einen Orden verleihen, wenn ich die Stunde so verzögerte, dass sie nicht mehr drankommen konnte.
»Sie hat voll Schiss«, hörte ich jemand sagen.
»Ja, sieh nur, wie sie schwitzt.«
Tanja und Elke! Na wartet! Die beiden würde ich kaltmachen! Irgendwann, wenn ich hier mal wieder runtergekommen wäre.
Herr Lohmeier trat zwischen die beiden Holme und sah genervt zu mir auf. »Los jetzt. Ich gebe dir Hilfestellung.«
Er streckte den Arm aus und berührte meinen Bauch. Es war mir unangenehm, doch ablehnen konnte ich seine Hilfe auch nicht. Gerade das war so demütigend. Ich wippte wieder, während er bis drei zählte. Dann spürte ich den Stoß und riss die Beine hoch.
Der Boden raste auf mich zu, und schon landete ich auf der Matte. Nicht mit gestrecktem Körper und stolzem Blick, wie man das von den Turnerinnen bei Meisterschaften kannte. Ich kam schräg auf und fiel wie ein Häuflein Elend über meine eigenen Füße. Mühsam rappelte ich mich auf und schenkte den kichernden Weibern einen tödlichen Blick.
»Das war nichts. Das üben wir nächste Stunde noch einmal«, sagte Herr Lohmeier, doch ich war erst einmal erleichtert, es für diesen Tag hinter mir zu haben. Ich wollte darum beten, dass Frau Johannsen bis dahin wieder gesund sei und sie irgendwas Nettes machen würde. Gymnastik mit dem Band oder so.
Am Abend lag ich noch lange wach. Ich fragte mich, ob es an meinem Körper lag oder an meinem Kopf oder an beidem. Wie konnte man sich so beherrschen, dass der Körper diese Übungen einfach ausführte und man keine Angst dabei empfand? Ich wollte so gern wissen, wie sich das anfühlte.
Ich setzte mich kerzengerade im Bett auf. Es war kurz nach zehn. Vielleicht war die Turnhalle noch offen. In der anderen Halle wurde an jenem Abend Basketball gespielt. Das Training dauerte oft recht lang. Einen Versuch konnte es wert sein! Ich stand auf, warf den Schlafanzug von mir, baute mich kerzengerade vor dem Spiegel auf und versuchte, nicht auf meine körperlichen Mängel zu achten. Die taten jetzt nichts zur Sache. Wenn ich es schaffte, mich genügend zu konzentrieren, dann sollten sie in wenigen Augenblicken verschwunden sein.
Wollte ich das denn? Ich zögerte. Seit dem Tod meiner Mutter hatte ich mich nicht mehr sehr oft gewandelt. Ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern, was geschehen war, nachdem ich in der Gestalt des Nachtmahrs nach Hause zurückgekehrt war. Tief in mir ahnte ich es, doch wollte ich es so genau wissen? Würde ich es ertragen können, mich an meine unverzeihlichen Taten zu erinnern?
Seitdem wusste ich, dass der Nachtmahr nicht nur eine schöne Gestalt in mir zutage brachte. Ich ahnte, dass ich seine unbeherrschte Wildheit nicht immer kontrollieren konnte. Das machte mir Angst, doch die Versuchung war an diesem Abend zu groß. Ich wollte es! Bis in den tiefsten Winkel meiner Seele hinein. Ich kniff die Augen zu und stellte mir die schöne, furchtlose Frau vor.
Es funktionierte! Ich spürte, wie meine Formen zu fließen begannen. Es tat nicht mehr so weh. Es überwog das Gefühl freudiger Erwartung. Ich riss die Augen auf und betrachtete mich im Spiegel. Sie war so wunderbar! In dieser Gestalt konnte mir keiner etwas anhaben. Ich schlüpfte in die Kleider, die Sabrina bei mir deponiert hatte. Es waren Sachen, die sie sich von ihrem Taschengeld gekauft hatte und die ihre
Weitere Kostenlose Bücher