Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Finsternis die meisten Kräfte entwickelte und seine größte Macht über ihren Geist, ihren Verstand und ihre Handlungen. Sie wurde schon Tage vorher immer nervöser, dennoch war es ihr gelungen, jeden Abend vor Mitternacht daheim zu sein und den Stromkreis an ihrer Tür zu schließen. Vermutlich wäre der Nachtmahr durch irgendeines der Fenster entwischt, wenn man diese – abgesehen von dem kleinen Fenster im Bad – mehr als einen Spalt hätte öffnen können.
Alles ging so weit gut, nur eben heute nicht. Der Drang nach Freiheit hatte bereits am Nachmittag die Führung übernommen. Sie merkte, wie sie schnippisch zu ihren Kolleginnen wurde und mit den Kollegen zu flirten begann, ohne etwas dagegen tun zu können. Beide Parteien sahen sie ob des ungewohnten Verhaltens verwundert an. Lorena glaubte, vor Scham im Boden versinken zu müssen, doch der Nachtmahr in ihr triumphierte. So verließ sie das Büro sobald es ging, ohne eine Krankheit vorschieben zu müssen, und machte sich auf den Weg zur U-Bahn, doch das Wesen in ihr hatte andere Pläne. Es würde sich heute Nacht nicht wieder einsperren lassen! So trieb es sie durch die Stadt, bis die Eindrücke verschwammen und sie nicht mehr wusste, wohin sie unterwegs war. Punkt zwölf verwandelte sie sich und entfaltete ihre Schwingen, um nach Notting Hill zurückzukehren. Um Noah aufzulauern!
Hat nicht er mir aufgelauert?, widersprach die Stimme in ihr keck.
Wie auch immer … Jedenfalls landeten sie wieder in seinem Bett und hatten sich dem ungezügelten Sex hingegeben, bis sie ihn gegen zwei Uhr morgens verließ.
Nun lag sie in ihrem eigenen Bett, in ihrer eigenen Gestalt, doch die Hormone pochten noch durch ihr Blut und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Wieder einmal fühlte sie sich so einsam und leer, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ach, wie gern hätte sie jemanden gekannt, den sie um Rat fragen könnte. Eine andere Frau, die ebenfalls mit diesem Fluch belastet war. Oder zumindest jemanden, der von ihm wusste und ihr zuhören würde.
Sie dachte an Jason. Nein! Wie könnte sie ihn damit belasten? Er würde sie verlassen. Er musste sie verlassen, wollte er nicht Opfer dieses Albtraums werden. Wie Noah, den sie systematisch zugrunde richtete.
Quatsch!
Er hat vergangene Woche eine Schlägerei angefangen und ist verhaftet worden. Er musste eine Nacht im Gefängnis verbringen!
Er hat nur ein wenig über den Durst getrunken. So was kommt vor.
Nein, so etwas kommt nicht einfach vor. Seine Freunde schwören, dass er nie aggressiv war und zuvor noch nie in eine Schlägerei verwickelt.
Menschen ändern sich. Du musst nicht immer dir die Schuld geben.
Sie schwieg, doch das nagende Gefühl ließ sich nicht vertreiben. Es war nur ein Verdacht, doch er lastete immer schwerer auf ihrem Gemüt. War es ihre Schuld? Die Schuld des albtraumhaften Wesens in ihr, das diesen Mann und vielleicht alle anderen, die mit ihr zu tun hatten, schleichend verdarb, wie ein Gift, das – immer wieder in kleinen Dosen genommen – irgendwann zum Tod führt?
Sie musste einfach mit jemandem reden. Sie brauchte einen Rat, bevor sie selbst daran erstickte. Doch es gab niemanden, der von ihrer finsteren Seite wusste, und das musste auch so bleiben.
Lorena warf die Decke beiseite, stapfte ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel plumpsen. Sie nahm wieder ihre beiden Schlüssel aus dem Geldbeutel und rieb sie zwischen den Fingern. Sie war überzeugt, dass sie wichtig für sie waren, und dennoch wollte es ihr nicht einfallen, warum. Wie lange würde die Erinnerung sich noch vor ihr verbergen? Wann würde es ihr endlich wieder einfallen. Irgendjemand, der ihr wichtig war und den sie mochte, hatte sie ihr gegeben und ihr eingeschärft, sie immer gut zu verwahren … Doch wer und warum?
Sosehr sie sich auch anstrengte, es blieb dunkel in ihren Gedanken. Lorena steckte sie mit einem Seufzer wieder ein und zog stattdessen das Buch heran. Sie blätterte bis zu ihrem letzten Eintrag. Für einige Momente verharrte die Füllerspitze über dem leeren Blatt. Sie dachte mit geschlossenen Augen nach, bis die Bilder in ihr aufzusteigen begannen.
Es war der Abend vor Neumond. Ich war ganz aufgeregt, denn inzwischen wusste ich, dass in dieser Nacht stets etwas Aufregendes passierte. Seit einem Dreivierteljahr hatte ich meine Periode, und jedes Mal hatte ich mich in diesen Nächten in die fantastische Frau verwandelt. Inzwischen passierte das auch in anderen Nächten, doch zu Neumond immer.
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