Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Er war von der Fahrbahn abgekommen. Das Auto ist völlig zerquetscht gewesen. Ein rauchendes Wrack. Der durchdringende Gestank nach verschmortem Gummi und nach Benzin – und der schreckliche Geruch von frischem Blut. Dem Blut meines Vaters, der leblos zwischen Blechteilen eingeklemmt in diesem Wagen steckte. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis der Rettungswagen am Unfallort eintraf, wo es nichts mehr zu retten gab.
Lorena schüttelte den Kopf, um sich von den Bildern zu befreien. Es konnten keine Erinnerungen sein. Sie hatte lediglich die Fotos gesehen. Sie war nicht am Unfallort gewesen. Aber wo hatte sie sich in dieser Nacht herumgetrieben? Es war zu Neumond gewesen. Natürlich. Viele schreckliche Dinge geschahen in der Nacht der Finsternis, in der sich der Mond vor der Welt verbarg. Wo war sie gewesen?
Lorena konnte sich nicht mehr erinnern. Noch immer waren die Wandlungen bei Neumond heftiger, der wilde Drang in ihr stärker, doch sie war lange nicht mehr so unbeherrscht wie in den ersten Jahren, während derer sie dem Wesen in ihr und seinen Bedürfnissen völlig ausgeliefert gewesen war. Heute war sie stärker geworden und hatte gelernt, die dunkle Seite zu beherrschen.
Lorena hielt mitten in diesem Gedanken inne und starrte auf die Tür, die sich mit einem leisen Klicken entriegelte. Es musste ein Uhr vorbei sein. Sie wandelte sich zurück und spürte erleichtert, wie sie in ihren eigenen Körper zurückkehrte.
Ein allerhöchstens durchschnittlicher Körper.
Lorena ignorierte die Spitze. Sie dachte darüber nach, wie ihre ersten Nächte nach ihrer Wandlung verlaufen waren und wie es heute war.
O ja, sie hatte alles im Griff! Deshalb musste sie sich auch ein stromgesichertes Gefängnis bauen, in dem sie sich selbst Nacht für Nacht gefangen nahm. Deshalb war es ihr auch so gut gelungen, sich von Noah fernzuhalten. Deshalb war aus dem netten, charmanten Mann ein übel gelaunter Schläger geworden.
Nein, es war nicht bewiesen, dass sie als Nachtmahr die Schuld daran trug.
Na und wenn schon, ertönte es gleichgültig in ihrem Kopf. Er ist nur irgendein Mann. Er bringt das Blut in Wallung und ist eine nette Unterhaltung. Das ist das Einzige, was zählt.
Nein! Nein! Nein!
Freundschaft und Liebe, Geborgenheit und Vertrauen, das waren die Werte, die wirklich zählten.
Vertrauen? Und Ehrlichkeit? Die Stimme in ihr gluckste. O ja, absolute Offenheit. Dann würde ich vorschlagen, du gehst hinunter und weckst Jason, um ihm die ganze Wahrheit zu berichten. Ich bin auch gern bereit, ihm eine Kostprobe meiner Unwiderstehlichkeit zu liefern!
Lorena versuchte, die Stimme in ihrem Kopf, die sie so sehr hasste, auszublenden. Und doch war sie ein Teil von ihr, mit dem sie leben musste. Wieder einmal wünschte sie sich nichts mehr, als einfach normal zu sein.
Du meinst durchschnittlich? Sieh dich im Spiegel an. Ich weiß nicht, was Jason an dir findet.
»Ich auch nicht«, flüsterte Lorena, als sie die Tür aufschob und so leise wie möglich den Dachboden überquerte. Sie schlich die Treppe hinunter, als Jasons Stimme sie zusammenzucken ließ.
»Lorena? Wo bist du?«
Er klang ein wenig verschlafen. In seiner Schlafanzughose kam er aus der Küche getappt. Als er sie auf der Treppe entdeckte, huschten erst der Ausdruck von Verwunderung und dann von Freude über seine Miene.
»Wo bist du gewesen? Ich habe dich überall gesucht.«
Er trat zu ihr und zog sie in seine Arme. »Du bist ja eiskalt. Komm wieder ins Bett.«
Lorena bemerkte, dass sie noch immer nackt war, und nun spürte sie im Kontrast zu seinen warmen Armen die Kälte, die sie umfing. Ihre Härchen stellten sich am ganzen Körper auf. Bereitwillig ließ sie sich Richtung Schlafzimmer ziehen und kuschelte sich mit ihm unter die Bettdecke.
»Was hast du dort oben gemacht?«, murmelte er ein wenig schläfrig.
»Nichts Wichtiges«, gab sie zurück. »Ich konnte nur nicht schlafen. Ich laufe nachts oft ein wenig herum.«
»Das werde ich dir abgewöhnen«, sagte er und zog sie noch ein wenig enger an sich. »In meinen Armen wirst du von nun an jede Nacht selig wie ein Baby schlummern.«
Sie verzog das Gesicht zu einem verzerrten Lächeln und wusste nicht, ob sie sich über diese Ankündigung freuen sollte.
Kapitel 11
SUSANNE
Sie hatte sich diese Woche gut gehalten. Bis auf heute.
Lorena konnte nicht schlafen, obwohl es bereits nach drei Uhr in der Nacht war, doch das wunderte sie nicht. Heute war Neumond, die lichtlose Nacht, in der das Wesen der
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