Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
dass ihnen das entgangen sein soll.«
Dr. Renz mischte sich ein: »Oh nein, das ganz sicher nicht. Aber oft fühlen sich die Mütter mitschuldig, sie spüren ja schließlich, dass da etwas eigenartig ist mit ihrem Nachwuchs. Manchmal sind sie sogar verantwortlich für das, was später passiert – die Kindheitserlebnisse der Täter sind oftmals unter den Augen der Mütter geschehen.«
»Es gibt bei Peuker keine Hinweise auf Opfererfahrungen in seiner Kindheit«, warf Dr. Grede ein. »Zumindest haben wir das noch nicht weiterverfolgt«, schränkte er dann ein und machte sich gleich eine entsprechende Notiz.
»Der Hinweis auf Manfred Peuker kam von seiner Großmutter, vergessen wir das nicht. Und er kam gleich am Sonntagnachmittag, kaum dass sich das Verbrechen im Dorf rumgesprochen haben dürfte.«
»Warum hat sie das wohl getan?«
»Genau das habe ich vor, sie zu fragen. Und mir sind noch ein paar andere Dinge unklar. Peuker hat so seltsame, richtig altmodische Worte benutzt. Steifstand. Fütern. Backpfeifen. So spricht doch heutzutage kein junger Mann!«, war Judith Brunner überzeugt.
»Was?!« Lisa sprang auf und holte die Archivakte zu den Tierquälereien aus dem Regal neben den Wandtafeln. Sie hatte die Unterlagen gestern Abend, als die anderen schon gegangen waren, noch einmal intensiv studiert. »Einer der Zeugen, der 1977 vernommen wurde, hat genau diese Wörter benutzt! Wie hieß der noch mal?« Sie blätterte ungeduldig. Dann sah sie auf und sagte: »Matthias Boll!«
Als Judith Brunner den Namen hörte, wurde ihr heiß im Nacken. »Die Welt ist wohl kleiner, als ich dachte. Noch ein Grund mehr, mit den Frauen zu reden.«
»Die Mutter sitzt unten«, erinnerte Lisa.
Judith Brunner nickte. »Später. Ich will die Großmutter zuerst sprechen. Holt sie her. Sie hat uns ihren Enkel quasi frei Haus geliefert. Ich will wissen, warum.«
~ 58 ~
Nach den morgendlichen Routinearbeiten fand Walter Dreyer gegen Mittag Gelegenheit für seinen Besuch bei den Bauers. Er klopfte an die Haustür und trat ein, ohne die entsprechende Aufforderung abzuwarten. Ein mehrstimmiges Gebrüll war aus der Küche zu vernehmen und im ersten Moment ließ sich nicht unterscheiden, ob das Wutgeheul, Triumph- oder Schmerzensschreie waren.
Alarmiert eilte Walter zum Kampfgetümmel und sah Tommy, der, bewaffnet mit einem langen Holzlöffel, mit Fritzi, der einen wuchtigen Teigroller in der Hand hielt, ein Duell ausfocht. Dany hatte sich eine tiefe Schüssel als Helm auf dem Kopf gesetzt und feuerte ihren Bruder in die Hände klatschend an. Mario Boll, der eine Tüte Mehl umklammert hielt, hatte sich offensichtlich entschieden, der anderen Seite seine lautstarke Unterstützung zukommen zu lassen, und Baby Henry, das bei Elvira auf der Hüfte saß, quietschte und zappelte vergnügt mit. Seine Mama hatte über ihr weißes Minikleid eine ebenso kurze, knallbunte Kochschürze gebunden, die mit kleinen Rüschen versehen und aus demselben Stoff geschneidert war wie das Sommerhöschen des Kleinen. Ihr Haar trug sie zu einem eleganten Knoten gebunden, den eine schillernde Schleife hielt.
»Wenn ihr nicht bald aufhört, euch wie die Musketiere aufzuführen, wird das nie etwas mit unserem Plätzchenbacken«, ermahnte Elvira die Kinder. »Und die Beerdigung ist schon heute Abend.«
Das half, um die Helden einigermaßen zu beruhigen. Oder war es doch der Besucher?
»Oh, lasst euch nur nicht von mir stören bei eurem Vorhaben, was immer das auch werden soll«, begrüßte Walter die aufgekratzte Runde und deutete mit beiden Händen auf den voll geräumten Küchentisch. Dann fragte er bei Elvira nach: »Benötigst du meine Unterstützung?«
Sie kam auf ihn zu. »Ja, du kannst Henry nehmen. Wir haben nämlich wirklich allerhand zu tun. Danke.« Sie drückte ihm den kleinen Kerl in den Arm.
»Wir begraben Melli!«, platzte Mario Boll aufgeregt heraus. »Eingewickelt in mein Lieblingsbadetuch.«
»Mit Lampions und mit einem Gedicht am Grab!«, ergänzte Dany.
Tommy sah Walter Dreyer an und raunte ihm verschwörerisch zu: »Melli ist doch eine Leiche. Und wir machen einen« – er sah kurz zu Fritzis Mama auf und sprach das Wort beinahe ehrfürchtig aus – »Leichenschmaus. Im Wald.« Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würde der Junge weinen wollen.
Fritzi erzählte Walter, was ihnen seine Mama erklärt hatte: »Das macht man bei toten Menschen auch. Dabei unterhalten sich Familie und Freunde über schöne Dinge, die man
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