Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
und wollte umgehend zum Fundort kommen. Judith Brunners ehemaliger Vorgesetzter in Magdeburg, mit dem sie bestenfalls eine gegenseitige Antipathie verband, drängte erwartungsgemäß auf intensive Ermittlungen und schnelle Ergebnisse, als ob ihr nicht selbst daran läge, den Tod des Mädchens rasch aufzuklären. Kindsmord, noch dazu ein Sexualverbrechen, besaß eine besondere Brisanz. Sämtliche Dienststellen und außerdem alle, die sich im Kreis und im Bezirk, ja bis hin nach Berlin, für zuständig hielten, würden ihr im Nacken sitzen. Lediglich aufgrund ihrer früheren Arbeit in der Mordkommission der Bezirksbehörde und wegen ihrer bisherigen Erfolge überließ man ihr auch jetzt wieder die Leitung der Ermittlungen, kündigte aber vorsorglich Kontrollbesuche an. Viel Zeit bekam Judith nicht. Unverhohlen wurde ihr angedroht, den Fall jemand anderem zu übertragen, sollte sie nicht bald einen Verdächtigen vorweisen können.
Sie nahm es geduldig hin; hatte sie doch gewusst, was sie bei diesen Telefonaten erwartete. Ihre Kraft wollte Judith lieber in ihre Arbeit stecken und unerbittlich den Mörder von Ilona Eichner suchen. Kompetenzdiskussionen raubten ihr nur die wertvolle Zeit. Sie rief bei Dr. Grede an.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens veranlasste er das Erforderliche zur Spurensicherung.
Judith Brunner hatte ihn gebeten, auch Dr. Renz nach Engersen zu schicken.
So eine Nachricht wollte niemand überbringen – egal, ob es sich bei den Adressaten um die Eltern handelte oder um die Tante oder um jemand anderen, der ein geliebtes Kind verlor.
Judith Brunner hatte Ernst Grambow an ihrer Seite. Auf dem Weg zu Clara Eichner schilderte sie ihm sachlich die Einzelheiten vom Fundort. »Wir behalten das aber für uns. Gerade der Schlauch ist ein Detail, das ausschließliches Täterwissen darstellt.«
Grambow nickte wortlos. Was hätte er auch sagen sollen.
Eine Nachbarin öffnete die Haustür und fragte Ernst Grambow mit besorgtem Blick nach Neuigkeiten. Als die Frau erkannte, welche Eröffnung ihnen bevorstand, schlug sie die Hand vor den Mund.
Clara Eichner kam aus ihrem Wohnzimmer in den Flur und sah suchend hinter die beiden Polizisten. Doch dort stand niemand.
»Frau Eichner, wir müssen Ihnen leider –«, wollte Judith beginnen, ihrer schweren Pflicht nachzukommen.
»Nein«, schrie die Frau kurz auf. »Nein. Sagen Sie es nicht. Bitte.« Als wäre es dann nicht wahr.
Grambow nahm Clara Eichner rücksichtsvoll beim Ellbogen und führte sie zurück in das Wohnzimmer. »Es tut mir sehr leid«, sagte er mit bewegter Stimme.
Lautlos liefen Clara Eichner die Tränen. Hätte Grambow sie nicht festgehalten, wäre sie zusammengebrochen. Er führte sie zu einem Sessel und setzte sie vorsichtig ab.
Clara Eichners Nachbarin kam mit einem Glas Wasser aus der Küche und reichte es ihr.
Sie trank es in einem Zug aus und hielt es mit leerem Blick zum Nachfüllen hoch. Erst als sie auch das zweite Glas getrunken hatte, reagierte sie wieder. »Setzen Sie sich doch«, forderte sie mit matter Stimme auf. »Ich hatte so gehofft.«
»Ich auch«, gab Judith Brunner zu. »Und es tut mir ebenfalls sehr leid. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«
Clara Eichner holte ganz tief Luft. »Was ist passiert?«, gelang es ihr zu fragen.
»Wir haben Ilona in einem Getreidefeld gefunden. Es war kein Unfall. Sie wurde ermordet.« Judith wusste, dass in dieser Situation sachliche Informationen von den Angehörigen am besten verkraftet wurden. Sie fürchtete deswegen auch die nächste Frage.
Die dennoch kam.
»Wie?«
Gab es eine Möglichkeit, das Entsetzliche erträglich zu benennen? »Es war ein Sexualverbrechen.«
»Oh! Ilona ist einem Sittenstrolch begegnet!?«, warf die Nachbarin erschrocken ein.
Dieses Wort passte nicht. Es passte ganz und gar nicht! Judith Brunner störte die unglückliche Wortwahl der Frau. Das war viel zu harmlos, angesichts dessen, was mit Ilona Eichner im Getreidefeld geschehen war. Doch warum sollte sie Clara Eichner jetzt mit den Details belasten, ihr die Grausamkeit des Täters vor Augen führen? Wozu? Also ließ Judith Brunner den Sittenstrolch im Raum stehen. »Wir müssen uns gründlicher in Ilonas Zimmer umsehen, Frau Eichner«, wandte sie sich an die unglückliche Frau und bekam ein kraftloses Nicken zur Antwort. »Ich werde meinen besten Mann herschicken, damit wir nichts übersehen. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, um herauszufinden, wer Ilona das angetan
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