Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
Sexualstraftäter suchten ihre Opfer oft, indem sie mit einem Fahrzeug durch die Gegend fuhren. Nachdem sie die Kinder angelockt hatten, konnten sie sie dann leichter zu einem Ort ihrer Wahl bringen. Sollte Ilona Eichner so einem Mann auf Kriechfahrt begegnet sein, gab es wenig Hoffnung, sie unversehrt zu finden.
»Rechts und links der alten Landstraße erstrecken sich große Getreidefelder. Einige Schläge sind schon abgeerntet, andere noch nicht«, fuhr Resch mit seinen kartografischen Erläuterungen fort. »Die Straße selbst ist schmal, mit Feldsteinen gepflastert und wurde streckenweise mit einer Asphaltdecke repariert, die aber an einigen Stellen schon wieder gefährlich brüchig ist. Meine Männer laufen die gesamte Strecke ab.«
»An beiden Straßenrändern stehen Obstbäume«, gab Ernst Grabow zu bedenken. »Vielleicht waren schon Leute da, die den Junifall aufsammeln wollten. An den Bäumen ist zwar noch nicht allzu viel zu holen, doch der eine oder andere guckt schon mal, wie denn die Ernte ausfallen wird. Ansonsten ist die Straße, noch dazu am Wochenende, wenig befahren. Am ehesten der schon erwähnte übliche Landwirtschaftsverkehr. Hin und wieder nutzen auch Radfahrer, trotz des schlechten Straßenzustands, diese Verbindung zwischen Waldau und Engersen für Besorgungen oder Besuche.«
Judith Brunner verfolgte auf der Karte in Gedanken den Weg, den Clara Eichner und ihre Nichte gestern spaziert waren.
Das Funkgerät des Bereitschaftspolizisten knackste und fiepte. Als er sich meldete, erreichte sie die Mitteilung, die niemand hatte hören wollen. »Hauptmann Resch, wir haben sie gefunden! ... Tot.«
»Wo?«, wollte er noch wissen.
Judith Brunner und Ernst Grambow liefen schon zur Tür und verharrten kurz.
»Gleich hinter dem ersten Weg vor der großen Kreuzung, im Roggenfeld ... Eine üble Sache.«
~ 15 ~
Judith Brunner wappnete sich gegen den Anblick. Sie ging allein zum Fundort. Um so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen, folgte sie dabei einer Trittspur in den Halmen, die etwa zwei Meter neben der verlief, die direkt zur Leiche führte. Als sie dann Ilona vor sich sah, hätte sie sich gern an etwas festgehalten. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass das zierliche Mädchen Opfer eines Sexualverbrechens geworden war. Sie lag auf dem Rücken, ihr Kleid war etwa bis zum Bauchnabel hochgeschoben. Die Oberschenkel lagen breit auseinander und flach auf dem Boden, in der Scheide steckte ein ungefähr daumendicker schwarzer Gummischlauch, der etwa zwanzig Zentimeter herausragte. Die Unterschenkel waren gekreuzt und die Schuhsohlen zeigten nach außen. Am rechten Fuß hing der zerrissene Schlüpfer des Mädchens, mit einer blutigen Monatsbinde. Ihr Gesicht war nach rechts gedreht, der rechte Arm angewinkelt mit der Hand unter dem Kinn. Ein Freundschaftsring, wie ihn viele Mädchen in diesem Alter trugen, steckte auf ihrem Ringfinger. Der linke Arm war waagerecht ausgestreckt. Die Finger der linken Hand waren zur Faust geschlossen, die einige Halme festhielt. Judith Brunner erkannte Würgemale am Hals des Mädchens. Wie grauenvoll! Sie war erschüttert und voller Mitgefühl.
Vorsichtig ging sie zum Weg zurück und dann zur Straße, wo Ernst Grambow, Helmut Resch und ein wenig abseits auch dessen Leute warteten.
»Ein Sexualverbrechen. Mord«, klärte Judith Brunner die beiden Männer kurz auf. Sie zog das Porträtfoto aus ihrer Tasche. »Sie ist es eindeutig«, identifizierte sie das Mädchen. Die Polizisten mussten keine Worte wechseln, um zu wissen, was auf sie zukam: Entsetzen, Unruhe und Wut in der Bevölkerung, dann Angst, Gerüchte und Verdächtigungen. Entschlossenes, sichtbares Handeln war jetzt vonnöten.
Grambow kniff sich in die Nasenwurzel und schloss die Augen.
»Sie können Ihre Suchtrupps zurückrufen und die Wehren nach Hause schicken«, sagte Judith Brunner zu Resch. »Ich muss ein paar Telefonate führen. Dann gehe ich mit Grambow zur Tante des Mädchens. Sie sollte es von uns erfahren ... Und: Sie lassen vorerst niemanden dahin«, sagte sie leise und deutete zum Feld. »Ich komme umgehend wieder her. Inzwischen passen Sie bitte persönlich gut auf alles auf.«
~ 16 ~
In Grambows Büro erledigte Judith Brunner die notwendigen Anrufe. Am Sonntag dauerte es üblicherweise etwas länger, bis die Diensthabenden die entscheidenden Leute erreicht hatten, doch dann griffen die üblichen Melderoutinen. Die Staatsanwältin hielt ihr zum Glück keinen Vortrag
Weitere Kostenlose Bücher