Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
das hatte sie leider allzu oft erleben müssen, die ihre eigenen Kinder grausam misshandelten. Auf der anderen Seite kannte sie viele kinderlose Männer und Frauen, die tief und aufrichtig den Kindern anderer Menschen zugetan waren. Ihr ging diese Unterscheidung in Eltern und Kinderlose gehörig auf die Nerven, aber sie ertrug sie auch dieses Mal, aus Respekt vor dem Leid und der Verzweiflung der Angehörigen.
Ewald Eichner hatte von ihr gar keine Antwort erwartet. Er begann zu erzählen: »Wissen Sie, meine Ehe war nicht gut. Wir haben zu jung geheiratet. Ich liebte meine Frau eigentlich nicht und auch zu meiner Tochter fand ich lange kein Verhältnis. Was sollte ich mit so einem kleinen Kind auch anfangen? Es schläft, trinkt und muss gewaschen werden. Ich fand die Perspektive einfach nur öde und geistlos, dieses Kinderwagenumhergeschiebe, beim Kinderarzt rumsitzen, am Sonntagmorgen an den Klettergerüsten den Aufseher spielen. Später dann die Elternabende in Gesellschaft besserwisserischer Eltern, lautstarke Kindergeburtstage – nein, Danke! Es ist ja nicht so, dass man als Vater nicht auch schöne Stunden hätte, doch mich hat das alles nur furchtbar gelangweilt. Mir fielen immer tausend Sachen ein, die ich viel lieber machen wollte. Meistens habe ich mich vor diesen lästigen Pflichten gedrückt und alles meiner Frau überlassen. Ich gebe ja zu, dass ich auch viel unterwegs war.« Er stand auf und ging zum Fenster. Er blickte hinaus, als er sagte: »Erst in den letzten Jahren, als sie etwas verständiger wurde, fand ich einen Zugang zu dem Mädchen.«
Ewald Eichner war sicher nicht der erste Vater, der erkannte, dass nicht alle Aspekte einer Elternschaft glücklich machten, doch gehörte er offensichtlich zu denen, die sich konsequent aus der Verantwortung stahlen. Konnte Judith Brunner das Missvergnügen an einem organisierten Familienalltag noch bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, machte sie der Egoismus dieses Mannes traurig. Doch das spielte in der gegenwärtigen Situation keine Rolle.
Ewald Eichner erzählte indessen weiter, ohne sich umzudrehen: »Als ich angerufen wurde und dann von ihrem Tod erfuhr ... Ich weiß überhaupt nicht, was man da so macht. Wie benimmt man sich denn in so einer Situation? Meine Schwester ist völlig fertig. Wir haben uns über die Beisetzung gestritten. Ich wollte das bei mir zu Hause machen, aber sie will das Grab unbedingt hier haben.«
Judith Brunner legte einen Finger über ihre Lippen und bedeutete Grambow, still zu bleiben. Sie wartete, ob Ewald Eichner weiter sprechen würde.
Der Mann stützte seine Arme aufs Fensterbrett und ließ den Kopf hängen. Dann hob er ihn wieder ein Stück und es schien, als lausche er auf ein Geräusch, das er erwartete, das aber nicht hörbar wurde. Dann drehte Ewald Eichner sich wieder um und setzte sich zurück in seinen Sessel. »Entschuldigen Sie bitte, ich war unkonzentriert. Sagen Sie, konnten Sie schon jemanden festnehmen?«
Judith Brunner nahm sich Zeit und berichtete ihm so ausführlich und detailliert, wie es die Umstände zuließen, von ihrer Suche nach seiner Tochter und von den bisherigen Ermittlungen. »Wir verfolgen mehrere Spuren und ich bin mir gewiss, dass uns eine zum Täter führt«, blieb sie in ihrer Vorhersage vage genug, um nicht zu große Hoffnungen zu wecken.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Ewald Eichner und sein Blick beschwor Judith Brunner nahezu, ihn tatsächlich irgendetwas tun zu lassen.
»Ja. Wenn Sie mir einige Fragen beantworten würden? Das könnte uns helfen.«
»Bitte. Fragen Sie.«
Grambow zog Notizblock und Stift aus der Brusttasche seiner Uniform.
Judith Brunner begann: »Sie sagten, Sie hätten Zugang zu Ilona gefunden. Wie haben Sie den Kontakt zu ihr gehalten?«
»Ich hab ihr Ansichtskarten geschickt. Immer, aus jedem Ort, in dem ich gerade war.«
»Aber Ilona ihrerseits konnte Sie nicht erreichen?«
»Unterwegs nicht, nein, wozu auch? Ich hätte sowieso keine Zeit gehabt. Und zu Hause hat sie mich jederzeit anrufen können. Wir haben uns regelmäßig getroffen.«
»Aha.«
»Na ja, ab und zu ein Wochenende und dann im Sommer habe ich sie immer mit in den Urlaub genommen. Gelegentlich haben wir dann schon richtige Gespräche geführt.«
»Hat sie Ihnen gegenüber einen Freund erwähnt? Oder jemanden, der ihr nachstellte?«
»Nein, nie. Jedenfalls nicht in diesem, hm, sexuellen Sinne. Soweit war sie, glaube ich, noch nicht. Es ging eher allgemein um Schulfreunde und
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