Nachtpfade
Flugwetter«, grinste er, und
wenig später saßen sie im Auto. Weilheim erwachte gerade, auf der Olympiastraße
Richtung Süden war wenig los. Das sanfte Licht des Herbstes lag über dem
Murnauer Moos, kein Wunder, dass sich all die Maler in diese Landschaft
verliebt hatten, dachte Gerhard.
Am kleinen Flughafen verließ ihn allerdings die
Begeisterung für den schönen Tag ein wenig, denn diese Cessna war winzig. Ein
Spielzeug. Hajo registrierte Gerhards Blick. »Keine Sorge, das Baby fliegt
wirklich.«
Er behielt recht, und als sie sich vom Boden löste,
spürte Gerhard auf einmal auch diese Euphorie, dieses Gefühl von Freiheit und
Erhabenheit hoch über all den Niederungen des Alltags. Hajo zog eine weite
Schleife über das Moos und hielt dann auf den Hohen Trauchberg zu. Sie flogen
rund fünfhundert Meter über Grund, und Hajo hatte aufgrund der Topografie nur
wenige Optionen offengelassen, wo so ein mobiles Sägewerk stehen konnte. Es war
faszinierend, die Wärmebildkamera zeigte etwas an, und Hajo war richtig
begeistert.
»Hirsche«, rief er und erklärte Gerhard genau, wie man
so ein Bild zu deuten hatte. »Wir haben schon Schneehühner in Verstecken
geortet, die Methode ist genial.«
Gerhard blickte über die Baumspitzen, und plötzlich
fiel ihm Braunbär Bruno ein. Wenn man sozusagen aus dem All via Satellit die
Pickel jedes Einzelnen sehen konnte, dann wäre es sicher ein Leichtes gewesen,
den Bären zu orten. Aber lieber hatten sich die finnischen Bärenjäger mit dem
süffigen bayerischen Bier ausgetiltet, und den polaren Bärenhunden war es
sowieso zu heiß gewesen.
Hajo schien seine Gedanken zu erraten. »Du denkst an
Bruno, die arme Sau?«
»Ja, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man
nicht wusste, wo sich der Bär befunden hat.«
Hajo grinste. »Natürlich haben die das gewusst. Die
ganze alberne Suche war ein Zugeständnis an die Tierschützer. Das Todesurteil
hat doch immer festgestanden. Und seltsam: Kaum wurde das Projekt Finnland als
gescheitert erklärt, töten bayerische Jäger den angeblich unauffindbaren Bären
binnen eines Tages. Die Welt will beschissen sein.«
Hajo zog wieder eine Kurve und meinte schließlich: »Hier gibt’s zwar Wild, aber kein Sägewerk, lass uns mal Richtung Schönberg
fliegen.«
Er folgte dem Lauf der Ammer und überflog Echelsbach.
Gerhard konnte Jos und Kassandras Haus ausmachen, es hatte als einziges ein
»geschecktes« Dach, wohl wegen der unterschiedlich farbigen Dachplatten. Die Welt
war so friedlich von hier oben – und so angenehm weit weg.
Als sie über Erhards Wald flogen, kam von Hajo eine
Art Schrei. »Da!«
»Was?«
»Dein Sägewerk. Der Motor gibt Wärme ab. Respekt, die
Säge an dieser Stelle reinzufahren. Ich nehme mal stark an, dass er sein Tun
nicht an die ganz große Glocke hängen will.«
Elegant drehte Hajo ab, und als sie in Eschenlohe
wieder sanft gelandet waren, war Gerhard richtig traurig.
»Schön, nicht? Fliegen befreit die Seele und weitet
das Herz«, sagte Hajo wehmütig. Er schickte hinterher: »Genieß diese letzten
Herbsttage, bald kommt der hässliche Winter, ich hasse Winter.«
Gerhard überlegte. Eigentlich mochte er den Winter –
oder besser hatte ihn gemocht. Je älter er wurde, desto stärker empfand er jene
Zeit als unangenehm, in der die Tage noch kämpften gegen die Nacht und doch
unweigerlich verlieren würden. Bald schon würden diese Tage kommen, wo die
Dunkelheit schnell herandrängt und sich wie ein schwarzes Tuch über die
Landschaft legt. Die Zeit, in der die langen Nächte die kurzen Tage vertreiben.
Die Zeit, wo die Dämonen in den Herbststürmen ums Haus tanzen. Wo sie auf
Regentropfen reiten und unaufhörlich gegen die Fenster pochen, sodass man sich
die Ohren zuhalten muss. Dunkelheit lähmte ihn.
Er war auf einmal gar nicht mehr so gut drauf.
Außerdem war die Autofahrt wie eine Entzauberung. Laut, hektische
Überholmanöver, viel gewalttätiger als Fliegen, befand Gerhard. Er rief Evi an,
die ihm sagte, sie sei in Schönberg. Aha, die Landwirtsliga!
»Und, was Interessantes?«
»Na ja, erzähl ich dir später. Und selbst?«
»Erzähl ich dir später. Fährst du ins Büro?«
»Ich wollte bei Jo vorbeischauen, sie hat mich zum
Früh- oder besser Spätstück eingeladen.«
»Oh! Dann komm ich da auch hin, wir müssen sowieso mit
Jo reden. Jacky hat ja auch mal beim Tourismusverband gejobbt. Bis gleich!«
Ȁh, Gerhard, wie, bis gleich? Wo bist du? Du kannst
doch …« Der Rest ging
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