Nachtprinzessin
der Küchenchef an Matthias’ Tisch. Er hatte keine Kochmütze auf, und nur die weiße Kochjacke identifizierte ihn noch als zugehörig zum Personal des Restaurants.
Clemens Majewski war sechsunddreißig Jahre alt und sah aus, als wenn er während seiner beruflichen Laufbahn schon viele Sahnesoßen gekostet hätte. Er hatte ein klassisches rundes Mondgesicht, in dem die winzigen Äuglein, die Nase und der zusammengepresste Mund wie »Punkt, Punkt, Komma, Strich« wirkten. Insofern war seine Mimik schwer einzuschätzen.
Seine Haut war rosig und glatt, und Matthias überlegte, ob er sich jeden Morgen so sorgfältig rasierte oder ob er überhaupt keinen Bartwuchs hatte.
Sein Schädel war rasiert, geölt und gecremt und wirkte, obwohl er aussah wie ein schweinslederner Fußball, sehr gepflegt.
»Herr von Steinfeld!«, begrüßte ihn Majewski überschwänglich. »Wie geht’s? Schön, Sie zu sehen. Hat es Ihnen heute Abend bei uns geschmeckt?«
»Das Essen war vorzüglich. Kompliment.«
»Danke, das freut mich.«
Damit war alles gesagt, die höfliche Eröffnung abgeschlossen, und Majewski sah Matthias erwartungsvoll an.
»Sie wissen, dass mein Sohn Koch ist?«
Majewski nickte.
»Zehn Jahre lang hat er in den führenden Hotels Berlins gearbeitet, alles Fünf-Sterne- und Fünf-Sterne-Plus-Häuser.« Dann zählte er die betreffenden Hotels auf.
»Jetzt geht es einfach nicht mehr. Er will raus aus so einem riesigen Betrieb, möchte lieber in einem Restaurant arbeiten. Und da ich kein besseres weiß als Ihres, wollte ich Sie mal fragen, ob Sie zufällig eine vakante Stelle haben und vielleicht einen fähigen, zuverlässigen und fleißigen Koch wie meinen Sohn brauchen könnten.«
Majewski überlegte ziemlich lange und machte dabei ein Gesicht, als hätte ihn jemand gefragt, wie viel die Wurzel aus einhundertneununddreißigtausendfünfhundertsiebzehn war.
»Das ließe sich eventuell einrichten«, sagte er schließlich. »Er soll seine Bewerbungsunterlagen, Lebenslauf, Zeugnisse und so weiter mitbringen und drei Tage zur Probe arbeiten. Dann sehen wir weiter.«
Halsabschneider, dachte Matthias im Stillen, drei Tage Probearbeiten waren mindestens dreißig Stunden schwerste Maloche für lau. Keinen Cent bekam man dafür. Es gab Betriebe, die sparten eine ganze feste Stelle ein, nur weil sie ständig Köche, die Arbeit suchten, zur Probe arbeiten ließen, um sie anschließend mit einem verlogen bedauernden Lächeln wieder nach Hause zu schicken.
»Das ist furchtbar nett von Ihnen«, säuselte Matthias. »Wann soll er vorbeikommen?«
»Meinetwegen gleich morgen um fünfzehn Uhr. Neben dem normalen Geschäft haben wir morgen Abend eine Vorbestellung für achtzig Personen. À la carte. Das kompliziert die ganze Sache, wie Sie sich sicher vorstellen können.«
Am liebsten hätte Matthias ihm gesagt, Alex kann leider erst übermorgen, aber er wagte es dann doch nicht, wollte die Tür nicht zuschlagen, wenn sie erst einen Spaltbreit offen war. Also blieb er freundlich.
»Gut. Ich werde es ihm ausrichten. Morgen fünfzehn Uhr. Herzlichen Dank, Herr Majewski.«
Der Küchenchef des Rautmann’s stand auf, reichte Matthias wortlos seine fleischige Hand und ging zurück in die Küche.
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In den nächsten Tagen hatte Matthias alle Hände voll zu tun, sodass er gar keine Zeit hatte, Gianni nachzutrauern und ihn zu vermissen. In der Wannseevilla von Dr. Hersfeld musste die Heizung modernisiert werden, und Hersfeld hatte ihn gebeten, die Organisation dieser ganzen Angelegenheit zu über nehmen, da er sich zurzeit viel im Ausland aufhalte. Also telefonierte sich Matthias die Finger wund, bis er eine Firma an der Hand hatte, die den Auftrag gleich übernehmen konnte und nicht erst Termine in einem halben Jahr ausmachte.
Aber seine ganze Fürsorge galt seiner Mutter. Er besuchte sie jeden Tag im Heim, und sie machte erstaunliche Fortschritte. Wenn er ihr Zimmer betrat, erkannte sie ihn mittlerweile sofort und lächelte. Und jeden Tag sprach sie ein paar Brocken mehr. Eine Unterhaltung mit ihr war zwar anstrengend, aber nicht mehr unmöglich. Sie gab sich Mühe und beantwortete sogar seine Fragen.
Ihre schrittweise Besserung machte ihn ganz euphorisch. Unentwegt überlegte er, was er ihr Gutes tun könnte, etwas, was ihr freudloses, langweiliges Dasein etwas aufmuntern könnte – und dann hatte er eines Morgens eine Idee.
Er würde ihr ihren größten, sehnlichsten Wunsch erfüllen.
Noch war es nicht zu spät.
Drei
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