Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
Vom Netzwerk:
hin, um den Baum zu zersägen und wegzuschaffen. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war wie in einem Western – Zwölf Uhr mittags, und kein Mensch auf der Straße. »Nur ruhig bleiben«, sagte mein Vater, mehr zu sich selbst als zu mir. »Wir erledigen das hier, und dann sind wir wieder weg.«
    Wir waren keine zehn Minuten zugange, als Lance in Jeans und karamellfarbenen Cowboystiefeln aus dem Haus kam. Vielleicht waren die Stiefel zu klein oder noch nicht eingelaufen, jedenfalls ging er sehr langsam und unsicher, als habe er gerade erst laufen gelernt.
    »Na bitte«, sagte mein Vater.
    Als Erstes beschwerte sich Lance, der Lärm der Kettensäge würde seine Kinder erschrecken, von denen eins mit einer Grippe im Bett läge.
    »Im September?«, fragte mein Vater.
    »Meine Kinder können krank werden, wann immer sie wollen«, sagte Lance. »Ich warne Sie nur, leiser zu sein.« Es war schwerlich möglich, eine Kettensäge leiser zu halten, aber das war auch nicht der springende Punkt. Mein Vater war in Hörweite der anderen Mietparteien verwarnt worden, und das würde Komplikationen nach sich ziehen.
    Lance humpelte zurück in seine Wohnung, war kurz darauf aber schon wieder da. Statt der Stiefel trug er jetzt ein Paar Turnschuhe. Ich schleifte gerade einen Ast zur Straße, als er mir vorhielt, ich würde seinen gepflegten Vorgarten ruinieren, der aus abwechselnd kahlen Stellen und dichtem Gestrüpp bestand und so gepflegt war wie eine Müllhalde. »Du musst die Zweige hochnehmen«, sagte er. »Schleift noch einmal einer über den Boden, kannst du was erleben. Kapiert?«
    Mein Vater war gut fünfzehn Zentimeter kürzer als Lance und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. »He«, sagte er, »reden Sie nicht so mit meinem Sohn.«
    »Sie haben nicht anders mit meinem Sohn geredet«, sagte Lance. »Sie haben ihn einen Lügner genannt und gesagt, er könne im September keine Grippe haben.«
    »Also, zu ihm habe ich überhaupt nichts gesagt«, sagte mein Vater.
    »Das kommt auf dasselbe raus. Wenn Sie meinen Sohn blöd anmachen, dann kriegt’s Ihrer in gleicher Münze zurück.«
    »Hören Sie«, sagte mein Vater. »Bitte nicht in diesem Ton.«
    Beide redeten gleichzeitig aufeinander ein, und als mein Vater lauter wurde, sagte Lance, er solle ihn gefälligst nicht anschreien. »Ich lasse mich nicht anbrüllen«, sagte er. »Wir sind hier nicht auf den Baumwollfeldern. Die Zeit der Sklaverei ist vorbei.« Er redete wie auf der Bühne, die Arme weit zu den Nachbarfenstern ausgebreitet.
    »Mit wem reden Sie?«, fragte mein Vater.
    »Sie glauben, ich wäre irgendein Nigger, den man anbrüllen kann? Sie wollen sagen, ich wäre ein Nigger? Nennen Sie mich einen Nigger?«
    Ich hatte meinen Vater dieses Wort noch nie sagen gehört, deshalb war es doppelt gemein von Lance, es ihm in den Mund zu legen. Die Leute würden reden, und mit der Zeit würde man glauben, mein Vater hätte Lance tatsächlich Nigger genannt. So ist das immer, wenn Geschichten verbreitet werden, und man kann nichts dagegen machen.
    »Sie sind nicht ganz bei Trost«, sagte mein Vater.
    »Aha, jetzt bin ich also auch noch ein verrückter Nigger, was?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Nein, aber Sie denken es.«
    Mein Vater vergaß für einen Moment seine guten Manieren. »Sie reden einen Haufen Müll.«
    »So, ich bin also ein Lügner?«
    Sie standen sich jetzt so nahe gegenüber, dass ihre Schuhspitzen beinahe aneinander stießen. Im Hintergrund sah ich Belinda im Fenster stehen, et was weiter Chester, Regina Potts, Donald Pullman – alle mit dem gleichen erwartungsvollen Blick. Hätte jemand meinen Vermieter bedroht, wäre ich genauso gespannt gewesen, aber hier ging es um meinen Vater, und ich hasste sie dafür, dass sie sich so prächtig amüsierten.
    Ich weiß nicht mehr, was meinen Vater und Lance dazu brachte, sich wieder zu beruhigen, jedenfalls regten sich beide allmählich ab, wie ein ko chender Wasserkessel, den man von der Herdplatte zieht. Die geballten Fäuste lösten sich, die Entfernung zwischen beiden wuchs, und nach und nach sank ihre Stimme auf normale Lautstärke. Meine erste Reaktion war Erleichterung. Ich musste nichts machen. Die schmähliche Pflicht, meinen Vater kämpfen sehen zu müssen, war mir erspart geblieben. Die Vorstellung, wie er sich prügelte, war schlimm genug, aber sich vorzustellen, wie er unterlag, wie sein Gesicht auf den Boden gedrückt wurde und er vor

Weitere Kostenlose Bücher