Nachtprogramm
sollte auch mit gutem Beispiel vorangehen. Ich war nie in ihrer Wohnung, aber was man durch die Tür sah, machte einen ziemlich wüsten Eindruck – nicht einfach nur unordentlich oder chaotisch, sondern hoffnungslos, die Behausung einer depressiven Person.
In Anbetracht ihrer häuslichen Situation war es kein Wunder, dass Bran di sich an mich h ängte. Eine normale Mutter hätte sich vielleicht Gedanken gemacht, wenn ihre neunjährige Tochter ihre Zeit mit einem sechsundzwanzigjährigen Mann verbrachte, aber Brandis Mutter schien das egal. Für sie war ich eine Art kostenloser Service: Babysitter, Zigarettenautomat oder am besten gleich ein ganzer Supermarkt. Manchmal hörte ich sie durch die Wand sagen: »He, geh zu deinem Freund und frag nach einer Rolle Toilettenpapier.« Oder: »Geh zu deinem Freund und sag ihm, er soll dir ein Sandwich machen.« Wenn Besuch kam und sie ihre Ruhe haben wollte, setzte sie das Mädchen einfach vor die Tür und sagte: »Geh nach nebenan und sieh nach, was dein kleiner Spielkamerad macht.«
Bevor ich eingezogen war, hatte Brandis Mutter sich an das Ehepaar von unten gehalten, aber man sah, dass sich das Verhältnis merklich abgekühlt hatte. Neben den an der Veranda fest geketteten Einkaufswagen hing ein Schild mit der Aufschrift KEIN DURCHGANG, und darunter hatte jemand mit der Hand geschrieben: »Das gilt auch für dich, Brandi!!!«
Auch in der zweiten Etage gab es eine Veranda, von der eine Tür in Brandis und eine in mein Schlafzimmer führte. Technisch gesehen gehörte die Veranda beiden Mietparteien, aber sie war so mit Gerümpel vollgestellt, dass ich sie nur selten benutzte.
»Ich bin nur mal gespannt, wann du deine Slumphase hinter dir hast«, sagte meine Mutter, als sie das Haus zum ersten Mal sah. Sie redete, als sei sie im Luxus groß geworden, dabei war ihre Kindheit noch viel ärmlicher gewesen. Ihre Anzüge, die edlen Brücken in ihrem Gebiss – alles das war reine Erfindung. »Du ziehst nur deshalb in diese runtergekommenen Viertel, damit du dich als was Besseres fühlen kannst«, sagte sie, was immer der Anfang eines Streits war. »Dabei kommt es im Leben darauf an, dass es aufwärts geht. In schwierigen Zeiten meinetwegen auch mal seitwärts, aber welchen Sinn macht es, immer weiter abzusteigen?«
Selbst eben erst in die Mittelschicht aufgestiegen, machte sie sich Sorgen, ihre Kinder könnten zurück in die Welt der Sozialfürsorge und der schlechten Zähne rutschen. Die feine Lebensart war noch nicht in unser Blut übergegangen, oder zumindest sah sie das so. Meine Kleidung aus dem Billigdiscounter trieb sie auf die Palme, genau wie meine gebraucht gekaufte Matratze, die ohne Lattenrost einfach auf dem Holzfußboden lag. »Das ist nicht alternativ«, sagte sie. »Das ist auch nicht natürlich. Das ist schmierig.«
Große Schlafzimmer waren etwas für Leute wie meine Eltern, aber als Künstler hatte ich es lieber spartanisch. Die Armut verlieh meinen dilettan tischen Bemühungen den dringend benötigten Anstrich von Authentizität,
und ich stellte mir vor, meine Schuld dadurch zu begleichen, dass ich fast unbemerkt das Leben der Menschen um mich herum verbesserte, nicht auf einen Schlag, sondern eines nach dem anderen, auf die gute alte Art. Es war, glaubte ich, das wenigste, was ich tun konnte.
Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich Brandi in meine Wohnung gelassen hatte, seufzte sie laut in den Hörer. »Und ich wette, du hast sie stolz durch die Wohnung geführt, stimmt’s? Mr. Großkotz. Mr. Dicke Lippe.« Das ließ ich ihr nicht so einfach durchgehen. Zwei Tage lang meldete ich mich nicht bei ihr. Dann klingelte das Telefon. »He, Kumpel«, sagte sie. »Du hast keine Ahnung, in was du da hineinschlitterst.«
Was macht man denn, wenn ein verwahrlostes Mädchen vor der Tür steht, sie einfach rausschmeißen?
»Genau«, sagte meine Mutter. »Schmeiß sie verdammt noch mal raus.«
Aber ich konnte nicht. Was meine Mutter als Angeberei bezeichnete, war in meinen Augen nur ein ganz normales Vorzeigen. »Das ist meine Stereoanlage«, sagte ich zu Brandi. »Das ist die elektrische Pfanne, die ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen habe, und das hier habe ich letzten Sommer aus Griechenland mitgebracht.« Ich dachte, ich würde ihr Dinge zeigen, die zu einem ganz alltäglichen Haushalt gehörten und einem etwas bedeuteten, aber sie hörte in allem nur den Besitzanspruch. »Das ist meine Schleife für herausragende Examensleistungen« hieß bei ihr:
Weitere Kostenlose Bücher