Nachtprogramm
er. »Aber glaube bloß nicht, ich bezahle dich fürs blöde Rumstehen. Das läuft nicht. Jedenfalls nicht bei mir.«
Das M ädchen von nebenan
»Also, das war es dann mit deinem kleinen Experiment«, sagte meine Mutter. »Du hast es versucht, es hat nicht geklappt, und jetzt ziehen wir weiter.« Sie hatte ihre Handwerker-Montur an: den ausgewaschenen türkisfarbenen Rock, einen um den Kopf gebundenen Baumwollschal und eine der Sportblusen, die mein Vater ihr in der Hoffnung gekauft hatte, sie für Golf begeistern zu können. »Fangen wir mit der Küche an«, sagte sie. »Das ist immer das Beste, oder?«
Ich zog mal wieder um. Diesmal wegen der Nachbarn.
»Oh, nein«, sagte meine Mutter. »Die können nichts dafür. Nur schön ehrlich bleiben.« Sie wollte meine Probleme immer bis zur Wurzel zurückverfolgen, was meistens hieß, bis zu mir. Holte ich mir beispielsweise eine Lebensmittelvergiftung, lag das nicht an der Küche. » Du wolltest unbedingt orientalisch essen gehen. Du hast das Lomain bestellt.«
»Lo mein. Es sind zwei Wörter.«
»Aha, Chinesisch kann er jetzt auch noch! Na dann, Charlie Chan, verra te mir doch das Wort für sechs Stunden Dauerkotzen und Durchfall.«
Dabei ärgerte es sie nur, dass ich Geld sparen wollte. Der billige Chinese, das Apartment für fünfundsiebzig Dollar im Monat: »Was du an der einen Ecke abzwackst, musst du anderswo doppelt drauflegen« war einer ih rer Sprüche. Aber wie sollte man nicht sparen, wenn gar kein Geld da war?
»Und an wem liegt es, dass du kein Geld hast? Ich war mir nicht zu fein, einen Vollzeitjob anzunehmen. Ich bin nicht diejenige, die ihr ganzes Geld zum Heimwerkermarkt schleppt.«
»Schon gut. Ich verstehe.«
»Na prima«, sagte sie, und dann begannen wir das Geschirr in Zeitungspapier einzuschlagen.
In meiner Version der Geschichte begann das Problem mit dem Mädchen von nebenan, einer Drittklässlerin, von der meine Mutter behauptete, man habe ihr das Unheil ansehen können. »Du brauchst nur eins und eins zusammenzuzählen«, sagte sie. »Mach einen Schritt zurück. Und denk darüber nach.«
Aber worüber sollte ich nachdenken? Es handelte sich um ein neunjähriges Mädchen.
»Oh, das sind die Schlimmsten«, sagte meine Mutter. »Wie heißt sie noch? Brandi? Also, wenn das nicht billig ist.«
»Entschuldigung«, sagte ich, »aber rede ich nicht mit jemandem, der sei ne Tochter Tiffany genannt hat?«
»Mir waren die Hände gebunden!«, rief sie. »Die verdammten Griechen hatten mich in der Zange, das weißt du genau.«
»Wie du meinst.«
»Also dieses Mädchen«, fuhr meine Mutter fort – und ich wusste genau, was sie als Nächstes sagen würde. »Was macht ihr Vater?«
Ich erklärte ihr, es gäbe keinen Vater, zumindest würde ich ihn nicht kennen, und wartete, bis sie sich eine neue Zigarette angezündet hatte. »Fassen wir zusammen«, sagte sie. »Ein neunjähriges Mädchen, das nach einem alkoholischen Getränk benannt wurde. Wächst allein bei der Mutter auf, in einer Gegend, in die sich nicht einmal die Polizei wagt. Hast du noch was für mich?« Sie redete, als hätte ich diese Leute aus Lehm ge formt, als könnte ich etwas dafür, dass das Mädchen neun Jahre alt war und ihre Mutter keinen Mann finden konnte. »Ich nehme an, die Mutter hat kei nen Job, stimmt’s?«
»Sie ist Kellnerin in einer Bar.«
»Na großartig«, sagte meine Mutter. »Erzähl weiter.«
Die Frau arbeitete nachts und lie ß ihre Tochter von vier Uhr nachmittags bis zwei oder drei Uhr früh allein. Beide hatten hellblonde, fast weiße Haare, und Augenbrauen und Wimpern waren unsichtbar. Die Mutter zog ihre mit einem Lidstift nach, aber die Tochter schien keine zu besitzen. Ihr Gesicht war wie das Wetter in Regionen ohne erkennbare Jahreszeiten. Gele gentlich verfärbten sich die Ringe unter ihren Augen purpurrot. Man sah sie auch mal mit einer geschwollenen Lippe oder einem Kratzer am Hals, aber ihr Gesicht verriet nichts.
Mit so einem Mädchen musste man Mitleid haben. Kein Vater, keine Augenbrauen und diese Mutter. Unsere Apartments lagen Wand an Wand, und jede Nacht hörte ich die stampfenden Schritte der Frau, wenn sie nach Hause kam. Meistens brachte sie jemanden mit, aber ob nun allein oder in Begleitung, stets fand sie einen Vorwand, ihre Tochter aus dem Bett zu werfen. Mal hatte Brandi einen Donut auf dem Fernseher liegen gelassen, mal hatte sie vergessen, ihr Badewasser abzulassen. Man darf Kindern nicht alles durchgehen lassen, aber man
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