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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Tiffany noch nicht einmal »Happy Birthday« singen hören, aber was ihre Stimme angeht, hat mein Vater Recht, sie hat eine wunderbare Stimme. Schon als Kind klang sie rauchig und voll, was selbst ihren banalsten Äußerungen einen verruchten, leicht erotischen Unterton gab.
    »Jeder Mensch soll mit seinen Talenten wuchern«, sagt mein Vater. »Wenn sie kein Album machen will, kann sie vielleicht im Empfang arbeiten. Da muss sie nur das verdammte Telefon abnehmen.«
    Aber Tiffany braucht keine Tipps für die Karriere, schon gar nicht von unserem Vater.
    »Ich glaube, sie ist glücklich mit dem, was sie macht«, wende ich ein.
    »Ach, Mumpitz.«
    Mit dreizehn bekam Tiffany eine Zahnspange, und mit vierzehn versuch te sie sie mit einer Kneifzange herauszubrechen. Zuvor war sie von zu Hause ausgerissen und wollte alle Ähnlichkeit mit dem Klassenfoto los werden, das meine Eltern der Polizei gegeben hatten. Beim Versuch, etwas über ihren Verbleib zu erfahren, redete ich mit einer ihrer Freundinnen, einem Mädchen, das einen wirklich hartgesottenen Eindruck machte und sich Scallywag nannte. Sie behauptete, nichts zu wissen, und als ich ihr vorwarf, sie lüge, öffnete sie eine Colaflasche mit den Zähnen und spuckte den Kronkorken in ihren Vorgarten. »Hör zu«, sagte ich, »ich bin nicht dein Feind.« Aber sie hatte einiges über mich gehört und wusste, dass mir nicht zu trauen war. Nachdem man sie aufgegriffen hatte, saß Tiffany eine Weile in Jugendarrest und landete dann in einer Erziehungsanstalt, von der meine Mutter in einer Talkshow im Nachmittagsprogramm gehört hatte. Zur Strafe musste man sich dort flach auf den Boden legen und den Mund öffnen, und ein Aufseher versenkte dann Golfbälle darin. »Böses Handikap« sagte man dazu. Letzten Endes machte man dort nichts anderes, als die Jugendlichen zu foltern, bis sie achtzehn waren und damit alt genug, ganz legal wegzulaufen.
    Nach ihrer Entlassung entwickelte Tiffany eine Leidenschaft fürs Backen. Sie besuchte eine Kochschule in Boston und arbeitete mehrere Jahre in einem Restaurant, in dem man es originell fand, Kekse mit Estragon und schwarzem Pfeffer zu bestreuen. Es war eine Küche für Leute, die lieber lesen statt essen, aber der Job war gut bezahlt, und es gab Sozialleistungen. Von Mitternacht bis in die frühen Morgenstunden stand Tiffany in der Kü che, siebte Mehl und hörte AM Talk Radio, was lustig oder gespenstisch sein kann, je nachdem, wie gut man sich von den Anrufern distanzieren kann. Tommy aus Revere, Carol aus Fall River – beide sind einsam und durchgeknallt. Man selbst ist das nicht. Aber gegen vier Uhr früh verwischt die Grenze und verschwindet völlig, wenn man allein und mit einer großen Papiermütze auf dem Kopf dasteht und frischen Schnittlauch auf eine Buttercremeglasur streut.
    »Darf ich rauchen?«, fragt Tiffany unseren Taxifahrer und hat die Zigarette bereits angezündet, noch ehe der Mann etwas sagen kann. »Sie können auch eine rauchen, wenn Sie möchten«, sagt sie. »Das stört mich über haupt nicht.« Der Mann, ein Russe, lächelt in den Rückspiegel und entblößt einen Mund voller Goldzähne.
    »Whoa, Daddy. Jetzt wissen wir, wo du dein Geld anlegst«, sagt Tiffany, und ich fange an mir zu wünschen, einer von uns hätte einen Führerschein. Wie unsere Mutter kann Tiffany problemlos mit den Leuten reden. Wäre ich nicht mit im Wagen und könnte sie sich ein Taxi leisten, säße sie zweifellos vorne neben dem Fahrer und lobte ihn für sein sicheres Blinken, um sich im nächsten Moment über das Foto auf seiner Fahrerlizenz oder den darunter stehenden Namen lustig zu machen. Als Kind hatte sie den Ruf einer notorischen Lügnerin, was sie heute dadurch wettzumachen versucht, dass sie jederzeit die Wahrheit sagt, so unpassend sie auch sein mag. »Ich will dich nicht belügen«, sagt sie und vergisst, dass nichts zu sagen auch eine Möglichkeit wäre.
    Auf der Fahrt von Cambridge nach Somerville zeigt Tiffany mir die ver schiedenen Arbeitsstätten, an denen sie in den letzten Jahren gearbeitet hat. Zuletzt in einer traditionellen italienischen Backstube, in der außer ihr lauter ergraute Kriegsveteranen mit Namen wie Sal oder Little Joey waren. Den ganzen Tag über suchten sie nach passenden Gelegenheiten, ihr an den Hintern zu packen oder ihr mit der freien Hand vorne über die Schürze zu fahren, und sie ließ sie gewähren, weil: »(a) Es tat nicht weh, (b) ich war die einzige Frau, welchen anderen Arsch sollten sie

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