Nachtprogramm
gezogen, allerdings auf eine unfaire Art, und ich bin selbst erstaunt, wie w ütend mich das macht. »Es ist ein Unterschied, ob man einen ›völlig normalen Truthahn‹ angeboten bekommt oder ob man einen Truthahn in der Mülltonne findet«, sage ich.
»Abfalltonne«, verbessert sie mich. »Mein Gott, du tust so, als ob ich mich hinterm Großmarkt durch die Müllcontainer wühle. Es war nur ein einziger Truthahn. Reg dich ab.«
Sie hat nat ürlich auch schon wertvolle Dinge gefunden und Kontakte zu Leuten geknüpft, die sich dafür interessieren. Es sind die Typen, die sich auf Flohmärkten herumtreiben, Männer mit Bärten und langen Fingernägeln, die sich darüber aufregen, wenn man die Farbe eines bestimmten Fiestaporzellans orange anstatt rot nennt. Sie haben etwas an sich, das mich misstrauisch macht, aber wenn man mich fragt, kann ich nicht mehr sagen, als dass ich mich in ihrer Nähe unwohl fühle. Wenn ich Freunde von Amy oder Lisa treffe, fühle ich eine Art Vertrautheit, doch die Leute, mit denen Tiffany herumhängt, sind ein völlig anderer Schlag. Ich denke nur an die Frau, die sieben Schussverletzungen abbekam, als sie sich der Polizei entziehen wollte. Sie ist wirklich sehr nett, aber sich der Polizei entziehen? Das ist irgendeine Outlawkacke, würde mein Bruder sagen.
Je näher wir ihrer Wohnung kommen, desto mehr unterhält meine Schwester sich mit dem Taxifahrer, und als wir vor ihrem Haus halten, bin ich praktisch völlig abgemeldet. Wie es scheint, hatte seine Frau große Probleme, sich an das Leben in den Vereinigten Staaten zu gewöhnen, und ist deshalb vor kurzem in ihr Heimatdorf bei St. Petersburg zurückgekehrt.
»Aber Sie sind nicht geschieden«, sagt Tiffany. »Sie lieben sich noch immer, richtig?«
Als ich dem Mann sein Geld gebe, spüre ich, dass sie viel lieber ihn als mich zu Besuch hätte. »Möchten Sie kurz reinkommen und das Bad benut zen?«, fragt sie ihn. »Haben Sie irgendein Ortsgespräch zu erledigen?« Er lehnt die Einladung höflich ab, und ihre Schultern sinken, als er davonfährt. Er war ein netter Typ, aber mehr noch als seine Bekanntschaft bräuchte sie ihn als Puffer, der sich zwischen sie und mein aus ihrer Sicht unvermeidli ches Urteil stellt. Als wir die Stufen zu ihrer Veranda hochgehen, zögert sie einen Moment, bevor sie die Schlüssel aus ihrer Tasche zieht. »Ich habe keine Zeit gehabt aufzuräumen«, sagt sie, doch sogleich ärgert sie ihre Lüge, und sie korrigiert: »Was ich sagen wollte, ist, dass es mir scheißegal ist, was du von meiner Wohnung hältst. Ich wollte eigentlich gar nicht, dass du herkommst.«
Ich sollte mich gut fühlen, dass Tiffany sich das endlich von der Seele geredet hat, aber erst muss der Schmerz sich legen. Würde ich nachfragen, könnte meine Schwester mir genau erklären, wie sehr sie meinen Besuch gefürchtet hat, also lass ich es lieber und frage nach der Katze, die ihren dicken rostroten Kopf am Verandageländer scheuert. »Ach die«, sagt sie. »Das ist Daddy.« Dann streift sie ihre Schuhe ab und schließt die Tür auf.
Die Wohnung, die ich mir bei unseren Telefongesprächen vorstelle, ist nicht die Wohnung, die Tiffany tatsächlich bewohnt. Es ist der gleiche phy sikalische Raum, doch ziehe ich es vor, sie mir so vorzustellen, wie sie vor einigen Jahren ausgesehen hat, als sie noch einen festen Job hatte. Sie war nie besonders schick oder sorgfältig eingerichtet, aber sie war sauber und bequem und schien ein Ort zu sein, auf den man sich nach der Arbeit freute. Es gab Vorhänge vor den Fenstern und ein zweites Schlafzimmer für Gäste. Dann kam die Rikscha, und nachdem sich ihre Wohnung in ein blühendes Ramschlager verwandelt hatte, gab sie auch den letzten Rest von Sentimentalität auf. Dinge werden angeschleppt, und wenn es Zeit für die Miete wird, wandern sie wieder raus, der gefundene Küchentisch genauso wie die Servierschüssel, die ein Erbstück unserer Großtante ist, oder die Weihnachtsgeschenke vom Vorjahr. Eine Zeit lang wurden gewisse Objekte ersetzt, bis sie eine wirklich harte Phase durchmachte und lernte, ohne Dinge wie Stühle und Lampenschirme auszukommen. Beim Betreten ihrer Wohnung versuche ich mich vom Fehlen dieser Dinge nicht irritieren zu lassen, was mir einigermaßen gelingt, bis wir in die Küche kommen.
Bei meinem letzten Besuch hatte Tiffany gerade damit begonnen, den Linoleumboden herauszureißen. Ich war davon ausgegangen, dass es sich um ein Projekt mit mehreren Arbeitsschritten
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