Nachtprogramm
muss im Einzelfall betrachtet werden. Wirklich ärgern kann sie sich über die kleinen Dinge, und ihr harsches Urteil beginnt meist mit »kein normaler Mensch«. »Kein normaler Mensch bastelt Gegenstände aus Kiefernzapfen«, heißt es dann, oder: »Kein normaler Mensch sagt Würstel zu einem Hot Dog. Das ist weder lustig noch originell. Das macht man einfach nicht.«
Ich war davon ausgegangen, Tiffany würde sich über die Geschichte von dem Mann auf der Toilette einigermaßen entsetzt zeigen. Ich hatte ein klares Urteil erwartet, doch stattdessen sagte sie nur: »Ich glaube nicht an Mobiltelefone.«
»Aber du glaubst daran, dass man Gespräche von der Toilette aus führen kann?«
»Was heißt glauben«, sagte sie. »Aber von mir aus, warum nicht?«
Ich dachte wieder an die Toilette in La Guardia. »Aber meinst du nicht, die Leute hören, was los ist? Wie willst du die Hintergrundgeräusche erklä ren?«
Meine Schwester tat so, als hätte sie einen Telefonhörer in der Hand Dann verzog sie das Gesicht und sprach mit gequälter, abgehackter Stimme, die man gemeinhin mit schweren Lasten verbindet. »Ich sage einfach: ›Wundere dich nicht. Ich kriege nur gerade diesen ... verdammten ... Deckel ... nicht ab.‹«
Tiffany lehnte sich in ihren Sitz zurück, und ich musste an die vielen Male denken, als ich auf diesen Satz hereingefallen war und mir vorgestellt hatte, wie sie hilflos in der Küche stand. »Versuch mal, den Deckel gegen die Küchenplatte zu schlagen«, sagte ich oder: »Halte das Glas unter heißes Wasser; das klappt manchmal.«
Nach langem, zähen Ringen kam dann endlich ein erleichtertes Aufatmen: »Na also ... ich hab’s geschafft.« Danach bedankte sie sich bei mir, und ich fühlte mich stark, weil ich mich für den einzigen Mann auf Erden hielt, der übers Telefon ein Glas aufschrauben konnte. An meine Eitelkeit zu appellieren war ein alter Trick, aber es steckte noch mehr dahinter.
Tiffany ist eine ausgezeichnete Köchin. Bequemlichkeit ist nicht ihre Sache, und deshalb vermutete ich in dem Glas immer etwas, das sie selbst eingemacht hatte. Gelee vielleicht oder Pfirsiche. Wenn der Deckel runter war, stellte ich mir vor, wie ihr ein verlockend süßer Duft in die Nase stieg und sie ein Gefühl von Stolz und Meisterschaft verspürte, sich noch ganz »auf die gute alte Art« zu verstehen. Indirekt hatte auch ich mich stolz gefühlt, aber jetzt fühlte ich mich betrogen.
»Daddy hat sich mal wieder viel zu viele Gedanken gemacht«, sagte sie.
»Daddy?«
»Ja doch«, sagte sie. »Du.«
»Niemand sagt Daddy zu mir.«
»Mama schon.«
Das ist ihre neuste Masche. Alle Männer sind bei ihr Daddy und alle Frauen Mama. Mit vierzig redet sie wie ein ziemlich aufgewecktes Kleinkind.
Meine Schwester wohnt in Somerville, in der Parterrewohnung eines kleinen zweist öckigen Hauses Ein Maschendrahtzaun trennt den Vorgarten vom Bürgersteig, und hinterm Haus steht eine Garage, in der ihr Fahrrad und die selbst gebaute Rikscha untergebracht sind, die sie hinten an ihr Rad hängen kann. Es ist ein monströses, kutschenartiges Teil mit einem Sperr holzboden und zwei R ädern von einem ausgeschlachteten Zehngangrad. Es gibt eine ganze Reihe Regeln, die Rikscha betreffend, von denen die meisten sich darum drehen, was man sich bei ihrem Anblick erlauben darf und was nicht. Lachen geht auf keinen Fall, genauso wenig wie eine Hupe nachmachen, mit dem Finger drauf zeigen oder mit den Händen Schlitzaugen ziehen. Letzteres kommt öfter vor, als man glaubt, und es ärgert Tiffany am meisten Sie ist eine entschiedene Fürsprecherin der Chinesen geworden, ganz besonders von Mrs. Yip, ihrer Vermieterin, die ihr beige bracht hat, Fett durch rhythmisches Klopfen auf Hüften und Bauch zu be kämpfen. Jeden Morgen steht meine Schwester im Wohnzimmer vor dem Fernseher und trommelt eine halbe Stunde auf sich herum Sie behauptet, es halte sie fit, obwohl es vermutlich eher am Fahrrad und an der schweren Rikscha liegt.
»Sie hat eine wunderbare Stimme«, sagt mein Vater. »Wenn sie nur etwas daraus machen würde.«
Fragt man ihn, was er mit etwas meint, sagt er, sie solle ein Album herausbringen.
»Aber sie singt gar nicht.«
»Na, sie könnte aber.« Er redet so, als sei die Tatsache, dass sie kein Album herausbringt, nur ihrer Faulheit zuzuschreiben, als ob die Leute einfach so in ein Studio spazierten, ein Dutzend Stücke aufnähmen und die Radiosender einem die Aufnahmen aus der Hand reißen würden. Ich habe
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