Nachtprogramm
Baggy-Pants und aufgemotzte Turnschuhe. Seine fette Uhr war aus Plastik und wie ein Jo-Jo um sein Handgelenk gebunden, und seine Haare sahen aus, als hätte man sie mit einem Dosendeckel geschnitten, die ungleichmäßig langen Fransen mit Gel eingeschmiert und dann so gezupft, dass sie in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden.
Sich einen Becher heißen Kakao zu machen war ein ziemlich kompliziertes Unternehmen. Man musste dazu das Kakaopulver von einem Ende des Tischs bis zum anderen verteilen, möglichst viele Holzstiele zum Umrühren benutzen und anschließend die Enden gut durchkauen, bevor man sie auf einen Stapel unbenutzter Servietten warf. Genau das ist es, was ich an Kindern so mag: dass sie sich ganz auf eine Sache konzentrieren können und dabei blind für alles andere sind. Nachdem er endlich fertig war, ging er zum Kaffeeautomaten, füllte zwei Becher mit schwarzem Kaffee und drückte auf beide einen Deckel. Er stapelte alle drei Becher übereinander und hob sie versuchsweise von der Tischplatte. »Ooaah«, flüsterte er. Heißer Kaffee war über den Rand des unteren Bechers gequollen und lief über seine Hand.
»Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«, fragte ich.
Der Junge sah mich einen Augenblick an. »Ja«, sagte er. »Bringen Sie die nach oben.« Statt bitte oder danke sagte er nur noch: »Mit dem Kakao komme ich allein klar.«
Er stellte die beiden Kaffeebecher zurück auf den Tisch, und ich wollte sie schon nehmen, als mir einfiel, dass dies vielleicht doch keine so gute Idee war. Ich war ein Fremder, ein bekennender Homosexueller, unterwegs in einer Kleinstadt, und er war vielleicht zehn. Und allein. Die Stimme der Vernunft flüsterte mir ins Ohr: Tu’s nicht, Kumpel. Du spielst mit dem Feu er.
Ich zog meine Hände zurück, stockte einen Moment und dachte: Augen blick. Das ist nicht die Stimme der Vernunft. Das ist Audrey, die blöde Kuh aus dem Radio. Die echte Stimme der Vernunft klingt wie Bea Arthur, und als die sich nicht meldete, nahm ich die Kaffeebecher vom Tisch und lief damit zum Lift, wo der Junge den Anforderungsknopf mit kakaobeschmier ten Fingern bearbeitete.
Ein Zimmermädchen ging vorbei und verdrehte die Augen in Richtung Empfang. »Putziges Kerlchen.«
Vor dem Kirchenskandal hätte ich vielleicht das Gleiche gesagt, allerdings ohne den begleitenden Sarkasmus. Jetzt hingegen schien jede Äußerung dieser Art verdächtig. Auch wenn Audrey mir dies nie abnehmen wird, spüre ich bei Kindern keinerlei körperliche Anziehung. Sie sind für mich wie Tiere, nett anzusehen, aber jenseits der Grenzen meiner sexuellen Vorstellungskraft. Dessen ungeachtet bin ich ein Mensch, der sich schuldig fühlt für Vergehen, die er nicht begangen hat oder die zumindest Jahre zurückliegen. Die Polizei sucht auf dem Bahnhof einen mehrfachen Sexualstraftäter, und ich verstecke mein Gesicht hinter der Zeitung und frage mich, ob ich es vielleicht im Schlaf getan habe. Das letzte Mal, dass ich etwas mitgehen lassen habe, war ein Achtspurtonband, aber bis auf den heutigen Tag kann ich kein Geschäft betreten, ohne mir wie ein Ladendieb vorzukommen. Es sind immer nur die Gefühle von Angst da, nie die Erleichterung darüber, es nicht gewesen zu sein. Noch schlimmer wird alles dadurch, dass ich ein ernstes Transpirationsproblem entwickelt habe. Mein Gewissen ist mit meinen Schweißdrüsen verkabelt, aber irgendwo muss sich ein Kurzschluss befinden und alle Schleusen öffnen, selbst wenn ich gar nichts getan habe, was mich nur noch verdächtiger macht.
Einem Kind zu Hilfe zu kommen war eine gute Sache – das wusste ich –, doch kurz nachdem ich die beiden Kaffeebecher in die Hand genommen hatte, war ich nass geschwitzt. Wie üblich, schwitzte ich am schlimmsten auf der Stirn, unter den Armen und, so grausam es ist, am Arsch, was ich mir selbst am allerwenigsten erklären kann. Hält die Stresssituation länger an, spüre ich die Schweißperlen an den Beinen hinunter rinnen, bis sie unten von den Socken aufgefangen werden, weshalb ich nur besonders saugfähige Socken aus Baumwolle trage.
Hätte es in der Lobby eine Kameraüberwachung gegeben, sähe der Film etwa so aus: Ein ein Meter vierzig großer Junge drückt und hämmert wild auf den Aufzugknopf. Neben ihm steht ein Mann, etwa dreißig Zentimeter größer, in Hemd und Krawatte und mit einem Kaffeebecher mit Deckel in jeder Hand. Regnet es draußen? Wenn nicht, kommt er vielleicht gerade aus der Dusche und ist, ohne sich abzutrocknen, in
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