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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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seine Kleider gestiegen. Seine Augen wandern unruhig hin und her, als suche er nach jemandem. Könnte es dieser Gentleman mit den silbergrauen Haaren sein? Er ist gerade hinzugetreten und sieht sehr elegant aus in seiner Tweedjacke und der dazu passenden Kappe. Er redet mit dem Jungen und legt ihm eine Hand auf den Hinterkopf, offenbar weil er ihn zurechtweist, was auch dringend nötig ist. Der andere Mann, der triefend nasse, steht nur da mit den beiden Bechern in der Hand und versucht gleichzeitig, seine Stirn mit dem Ärmel abzuwischen. Ein Deckel springt ab, und eine Flüssigkeit – es könnte sich um Kaffee handeln – ergießt sich über sein Hemd. Er hüpft, ja springt ge radezu in die Luft und reißt sich den Stoff von der Haut. Der Junge scheint wütend zu sein und sagt etwas. Der ältere Herr hält ihm ein Taschentuch hin, und der Mann setzt eine Tasse ab und hetzt – wie von der Tarantel gestochen – aus dem Blickfeld der Kamera, um dreißig Sekunden später mit einem neuen Becher mit Deckel zurückzukommen. Inzwischen ist der Auf zug eingetroffen. Der Gentleman hält den Türknopf gedrückt, und er und der Junge warten, bis der Mann den zweiten Becher vom Boden genommen hat und sicher im Aufzug ist. Dann schließt sich die Tür, und sie sind verschwunden.
    »Na, wen haben wir denn hier?«, fragte der ältere Herr. Seine Stimme klang leutselig und vertrauenswürdig. »Wie heißt du denn, junger Freund?«
    »Michael«, sagte der Junge.
    »Also, das ist ja ein Name für einen richtig großen Jungen, was?«
    Michael sagte, könnte sein, und der Mann blinzelte mir viel sagend zu, als wolle er sich meines geheimen Einverständnisses versichern. Da wollen wir den Kleinen mal ein bisschen in die Mangel nehmen, wie? »Ich wette, ein großer Kerl wie du hat jede Menge Freundinnen«, sagte er. »Hab ich Recht?«
    »Nein.«
    »Nein? Also, woran liegt’s?«
    »Keine Ahnung. Ich hab eben keine. Mehr nicht«, sagte Michael.
    Ich hatte es immer gehasst, wenn M änner mit der Frage nach den Freun dinnen kamen. Sie war nicht nur abgedroschen, sondern sie zeugte von Vorstellungen des Fragenden, die ich als Privatsache empfand. Sagte man Ja, malten sie sich aus, wie man der Angebeteten den Hof machte:
    Hot Dogs und Kartoffelchips bei Kerzenschein, das zerknüllte Snoopykopfkissen. Sagte man Nein, hielten sie einen für jemanden, der nicht rangelassen wird, der frustrierte Junggeselle aus der zweiten Klasse. Es entsprach einer Vorstellung von Kindern als kleine Erwachsene, die mir etwa so lustig vorkam wie ein Hund mit Sonnenbrille.
    »Aber da ist bestimmt eine, auf die du ein Auge geworfen hast?«
    Der Junge schwieg, aber der Mann lie ß nicht locker. »Schläft Mami heu te etwas länger?«
    Wieder nichts.
    Der Mann gab ’s auf und wandte sich an mich: »Ihre Frau«, sagte er, »ist also noch im Bett?«
    Er hielt mich für Michaels Vater, und ich beließ ihn in diesem Irrtum. »Ja«, sagte ich. »Sie ist oben ... im Koma.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte, oder vielleicht doch. Der Mann hatte sich ein hübsches kleines Fami lienidyll zurechtgelegt, und es machte Spaß, es zu durchkreuzen. Da war Michael, da war Michaels Dad, und jetzt war da noch Michaels Mom, lang ausgestreckt auf den Badezimmerfliesen.
    Der Aufzug hielt im dritten Stock, und der Mann tippte sich an die Kap pe. »Also denn«, sagte er. »Ihnen beiden noch einen angenehmen Morgen.« Michael hatte den Knopf für die fünfte Etage bestimmt zwanzigmal gedrückt, legte aber zur Sicherheit noch ein paar Schläge nach. Dann waren wir allein, und plötzlich kam mir ein sehr unangenehmer Gedanke.
    In einer angespannten Situation habe ich manchmal das Bedürfnis, irgendwen am Kopf zu berühren. Es passiert mir oft im Flugzeug. Ich sehe auf die Person im Sitz vor mir, und binnen Sekunden wird aus der bloßen Vorstellung ein Zwang. Es gibt keine Alternative – es muss einfach sein. Der einfachste Weg ist, so zu tun, als wolle ich aufstehen, mich dabei auf die Rückenlehne des Vordermanns zu stützen und ihm mit den Fingern durchs Haar zu fahren. »Oh, Verzeihung«, sage ich.
    »Keine Ursache.«
    Meistens stehe ich dann wirklich auf, gehe für ein paar Minuten nach hinten oder zur Toilette und versuche, das zwanghafte Bedürfnis niederzuringen, auch wenn ich weiß, dass es letztlich aussichtslos ist: Ich muss erneut den Kopf dieser Person berühren. Die Erfahrung hat gelehrt, dass man es dreimal machen kann, bevor der Besitzer des Kopfes einen anbrüllt oder

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