Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
Vom Netzwerk:
rung, dass ich so gut oder schlecht war wie jeder andere auch. Ja, ich bin schwul; ja, ich bin nass geschwitzt; ja, mich überkommt manchmal der Drang, anderen Leute an den Kopf zu fassen, aber ich kann trotzdem einen Zehnjährigen unbeschadet bis zu seiner Zimmertür bringen. Es ärgerte mich, dass ich etwas so Selbstverständliches beweisen musste. Und zudem noch vor Leuten, von denen ich nicht hoffen durfte, sie jemals zu überzeugen.
    »Hier ist es«, sagte Michael. Hinter der Tür hörte ich den Fernseher lau fen. Es war eins dieser Magazine am Sonntagvormittag, in dem eine Stunde in der Woche ausnahmslos gute Meldungen gebracht werden. Der blinde Jimmy Henderson trainiert eine Volleyballmannschaft. Einem kranken Murmeltier wird ein Wirbelsäulenkorsett angepasst. Diese Sorte Nachrich ten. Der Junge schob seinen Schlüsselchip in den Schlitz, und die Tür zu einem hellen, stilvoll eingerichteten Zimmer öffnete sich. Es war doppelt so groß wie meins, mit deutlich höheren Wänden und hatte eine kleine Sitzecke. Durch das eine Fenster blickte man auf den See, durch das andere auf eine Gruppe roter Ahornbäume.
    »Oh, da bist du ja«, sagte die Frau. Sie war eindeutig die Mutter des Jun gen, da beide das gleiche Profil hatten und ihre Stirn beinahe unmerklich in eine stumpfe, sommersprossige Nase überging. Beide hatten blonde, vom Kopf abstehende Haare, obwohl die Frisur bei ihr eher zufallsbedingt war und von den Kissen herrührte, die sie hinter ihren Kopf geklemmt hatte. Sie lag unter den Decken eines Himmelbetts und blätterte in einer der zahllosen Broschüren, die auf der Tagesdecke verstreut lagen. Neben ihr schlief ein Mann, der sich bei ihren Worten leicht zur Seite drehte und sein Gesicht in seiner Armbeuge vergrub. »Wo hast du so lange gesteckt?« Sie blickte zur offenen Tür und weitete erschrocken die Augen, als sie mich sah. »Was zum ...«
    Mit dem Rücken zu mir stieg die Frau aus dem Bett und zog einen gelben Morgenmantel über, der am Fuß des Bettes lag. Ihr Sohn wollte mir den Kaffee abnehmen, doch hielt ich die beiden Becher fest umklammert, da ich sie als meine wichtigsten Requisiten betrachtete und nicht hergeben wollte. Durch sie wurde aus einem Fremden ein hilfsbereiter Fremder, und ich sah mich schon mit den Bechern dastehen, im Kreuzverhör mit den Eltern, die von mir wissen wollten, was hier vor sich ging.
    »Geben Sie schon her«, sagte er, und um keine Szene zu machen, lockerte ich meinen Griff. Kaum war ich die Becher los, spürte ich meine Selbst sicherheit schwinden. Mit leeren Händen war ich ein Widerling, ein unheimlicher, nass geschwitzter Typ, der sich aus dem Keller nach oben geschlichen hatte. Die Frau lief quer durchs Zimmer zur Kommode, doch noch ehe sich die Tür ganz geschlossen hatte, rief sie hinter mir her: »He, warten Sie.« Ich drehte mich um, bereit, den Kampf meines Lebens zu kämpfen, als sie auf mich zutrat und mir einen Dollar in die Hand drückte. »Sie haben hier ein ganz entzückendes Hotel«, sagte sie. »Ich wünschte, wir könnten noch ein paar Tage länger bleiben.«
    Die Tür ging zu, und ich stand allein auf dem leeren Flur, drehte mein Trinkgeld in der Hand und dachte: Das ist alles?

Wer ist der Chef?
    Mein Boss hat eine Gummihand, erzählte ich unseren Pariser Gästen, die wir zum Abendessen eingeladen hatten, nach meinem ersten und einzigen Arbeitstag. Das französische Wort für Boss ist unser Wort für Koch, was die Geschichte noch fantastischer machte, als ich erhofft hatte. Ein Koch mit einer Gummihand. Da denkt jeder, die schmilzt ihm weg. Die Gäste beugten sich über den Tisch, unschlüssig, ob ich mich vielleicht im Wort geirrt hatte. »Dein Chef? Seit wann arbeitest du denn?« Sie wandten sich zur Bestätigung an Hugh. »Er hat einen Job?«
    Offenbar in dem Glauben, ich würde es nicht bemerken, ließ Hugh seine Gabel sinken und flüsterte: »Er leistet freiwillige Sozialarbeit.« Was mich so sehr daran ärgerte, war die Art, wie er es sagte – nicht gerade heraus, sondern hintenrum, als würde ein Dreijähriger von seinem ersten Tag in der Schule erzählen und ein Elternteil leise von der Seite murmeln: »Er meint den Kindergarten.«
    »Freiwillig oder nicht, ich hatte jedenfalls einen Chef«, sage ich. »Und seine Hand war aus Gummi.« Seit Stunden lief ich mit diesem Satz herum, hatte ihn sogar laut einstudiert und alle wichtigen Vokabeln im Wörterbuch nachgeschlagen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – aber das ganz

Weitere Kostenlose Bücher