Nachtprogramm
musste für eine kleine Übertreibung nicht gleich ermahnt werden. Die Leute sind dankbar für ein starkes geistiges Bild. Es regt ihre Vorstellungskraft an, und sie müssen nicht bloß zuhören. Hatten wir das nicht alles schon? Anstatt mich zu unterstützen, hatte er mich vor aller Augen zum Lügner gemacht, und, oh, wie ich ihn dafür hasste.
Nachdem er meine Glaubwürdigkeit im Hinblick auf den einarmigen Klempner untergraben hatte, konnte man die Geschichte mit der Gummihand praktisch vergessen. Die Gäste dachten nicht einmal mehr an Plastik, sondern nur noch an eine tatsächlich arbeitende Hand aus Fleisch, Knochen und Muskeln. Das geistige Bild war ausradiert, und sie würden nie verstehen, dass eine Hand mehr durch ihre Bewegung als durch ihre Form bestimmt wird. Die des Chefs hatte Fingernägel und Falten – vermutlich hätte man ihm sogar aus der Hand lesen können –, aber sie war rosa und ziemlich steif wie eine künstliche Hand, mit der ein Dompteur einem gefährli chen Tier beibringt, sich zu rühren. Ich weiß nicht, wie und wo sie befestigt war, aber ich bin mir ziemlich sicher, er konnte sie ohne große Probleme abnehmen. Als ich mit ihm in dem kleinen Raum saß und auf die Blinden wartete, die nicht kamen, stellte ich mir vor, wie die Hand auf dem Nachttisch aussah, wenn er sie dort ablegte. Es machte vermutlich keinen Sinn, sie auch im Schlaf zu tragen. Das Ding war nicht besonders hilfreich; die Finger ließen sich nicht strecken und beugen. Es war nur ein Stück Kosmetik, wie eine Perücke oder falsche Augenwimpern.
Die Unterhaltung bei Tisch schleppte sich dahin, aber der Abend war ge laufen. Jeder konnte das sehen. In ein paar Minuten würden die Gäste auf die Uhr sehen und von dem Babysitter daheim anfangen. Die Mäntel wür den geholt, und wir würden im Flur stehen und die Gäste nacheinander ver abschieden und sie die Treppe hinuntersteigen sehen. Anschließend würde ich den Tisch abräumen und Hugh das Geschirr abwaschen, ohne dass einer von uns auch nur ein Wort sagte, und wir würden beide überlegen, ob dies das Ende wäre. »Ich habe gehört, ihr habt euch wegen einer Plastikhand ge trennt«, würden die Leute sagen, und meine Wut würde erneut hochkom men. Der Streit würde weitergehen, bis einer von uns starb, und selbst dann wäre er noch nicht vorbei. Träfe es mich zuerst, stünde auf meinem Grabstein: ES WAR GUMMI. Hugh würde mit Sicherheit das Grab daneben erwerben und auf seinen Grabstein setzen lassen: NEIN, ES WAR PLASTIK. Tot oder lebendig hätte ich keinen Frieden, und so ließ ich die Sache ruhen, wie man es macht, wenn man immer nur den Kürzeren ziehen kann. In den folgenden Wochen stellte ich mir vor, wie die Hand jemandem zum Abschied winkte oder in die Luft schoss, um ein Taxi anzuhalten, und alle die anderen Dinge machte, die auch meine Hand tat. Hugh fragte, weshalb ich lächelte, und ich sagte: »Ach, nichts«, und redete nicht mehr davon.
Baby Einstein
Meine Mutter und ich waren am Strand, rieben uns gegenseitig den R ücken mit Sonnenöl ein und überlegten, wer aus der Familie als Erstes Kinder bekommen würde. »Ich glaube, Lisa«, sagte ich. Das war in den frühen Sieb zigern. Lisa war damals vielleicht vierzehn, und wenn sie auch nicht unbe dingt mütterlich wirkte, kam bei ihr alles schön der Reihe nach. Erst ging man aufs College, danach wurde geheiratet, und dann kamen die Kinder. »Ich wette mit dir«, sagte ich, »mit sechsundzwanzig hat Lisa« – drei Einsiedlerkrebse näherten sich einem weggeworfenen Sandwich, was ich als Omen nahm –, »hat Lisa drei Kinder.«
Ich kam mir wie ein Prophet vor, aber meine Mutter wollte nichts davon wissen. »Nein«, sagte sie. »Gretchen wird die Erste sein.« Sie blinzelte zu ihrer zweiten Tochter, die am Strand stand und einen Schwarm Möwen mit Fleischresten fütterte. »Man erkennt’s an ihren Hüften. Gretchen kommt zuerst, dann Lisa und dann Tiffany.«
»Was ist mit Amy?«, fragte ich.
Meine Mutter dachte einen Augenblick nach. »Amy wird kein Kind bekommen«, sagte sie. »Amy wird einen Affen haben.«
Ich selbst schloss mich von der Vorhersage künftiger Kinder aus, da ich mir keine Zeit vorstellen konnte, in der Homosexuelle, entweder durch A doption oder mithilfe einer Leihmutter, eine eigene Familie gründen könn ten. Ich ließ auch meinen Bruder außen vor, da ich ihn immer nur dabei sah, wie er gerade etwas zerstörte, nicht aus Versehen, sondern absichtlich und mit Genuss. Er würde ein
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