Nachtruf (German Edition)
wollte er Trevor so tief und schmerzvoll wie möglich treffen. Das Bild von Rains brutal zugerichteter Leiche tauchte urplötzlich vor seinem inneren Auge auf. Kalte Übelkeit ergriff ihn.
„Was machst du denn noch hier?“, fragte McGrath, als sein Partner Thibodeaux raschen Schrittes um die Ecke in den Flur bog. „Ich dachte, du wärst bei der Wohnung von Carteris, um zu sehen, ob der Sohn wieder aufgetaucht ist.“
„Er ist in der Tat wieder aufgetaucht“, verkündete Thibodeaux. „Ich wollte gerade hinten im Hof ins Auto steigen, als die Nachricht über den Polizeifunk gekommen ist. Zwei Officer haben beim Ascension vorbeigeschaut. Eine reine Routinekontrolle. Sie haben einen kleinen Goth gefunden, der an seinem dürren Hals vom Dachbalken baumelte. Laut Führerschein handelt es sich bei dem Toten um Oliver Carteris.“
Wie Trevor wusste, war der Club seit der nächtlichen Razzia geschlossen. „Steht fest, dass es Selbstmord gewesen ist?“
„Der Gerichtsmediziner ist erst jetzt am Tatort, doch alle Anzeichen deuten darauf hin.“ Thibodeaux klickte unablässig mit seinem Kugelschreiber, während er sprach. „Das Handy des Jungen wurde bereits kontrolliert. Die letzte Nummer, die er angerufen hat, war die von Dr. Sommers.“
War der Anruf der letzte Hilferuf eines verzweifelten Patienten gewesen? Oder steckte mehr dahinter? Trevor griff nach allem, was ihnen als Hinweis dienen konnte. Rain wurde seit drei Stunden vermisst. FBI und Polizei suchten fieberhaft nach ihr – Straßensperren waren errichtet, Flugblätter verteilt worden –, aber ihnen lief die Zeit davon.
„Ich fahre zum Ascension .“ Er sah zu McGrath. „Rufen Sie mich an, wenn der Phantombild-Zeichner fertig ist?“
„Na klar.“
„Warten Sie“, sagte Thibodeaux. „Ich fahre mit.“
„Was soll ich jetzt mit Ihrem alten Herrn machen?“, rief McGrath Trevor hinterher.
„Wenn Sie mit ihm fertig sind, rufen Sie das FBI an. Die sollen ihn abholen. Mir ist scheißegal, was dann mit ihm passiert.“
Sonnenlicht drang durch die Buntglasscheiben des Ascension und zeichnete ein buntes Farbspektrum auf den abgenutzten Tanzboden. Trevor beobachtete, wie zwei Kriminaltechniker den Leichnam von Oliver Carteris herabließen. Ein Klappstuhl aus Metall lag umgestoßen auf dem Boden der Kanzel. Offensichtlich hatte der Junge auf dem Sitz gestanden, bevor er sich abgedrückt und mit dem Elektrokabel erhängt hatte, das über einen der eisernen Kronleuchter geworfen worden war.
Er ist recht groß gewesen, dachte Trevor, als die Leiche auf den Bauch gelegt wurde. Deutlich über eins achtzig. Selbst im Tod war Oliver hübsch – wie der junge Johnny Depp –, schlaksig, mit dunkler Haut und tintenschwarzen Haaren. Hatte er den Jungen zuvor schon mal gesehen? Trevor war sich nicht sicher, doch er musste auf einmal an den Teenager denken, der an dem Tag am Rande des Coliseum Square Parks gestanden hatte, als er und Brian dort vorbeigefahren waren.
Er hielt die durchsichtige Beweismitteltüte in der Hand, in der der Inhalt von Olivers Taschen steckte. Der Führerschein und das Handy, das Thibodeaux erwähnt hatte, eine kleine Glaspfeife zum Marihuana- oder Crackrauchen und sechs Ecstasypillen. Sie passten zu denen, die sie während der Razzia sichergestellt hatten. Die Tüte enthielt außerdem einen Satz Autoschlüssel an einem Anhänger aus Zinn, in den ein Pentagramm eingraviert war, was in Olivers Kreisen absolut nichts Außergewöhnliches war. Einer der Schlüssel gehörte zweifellos zu dem Mercedes-Coupé, das die Spurensicherung gerade ganz genau unter die Lupe nahm. Aber es gab noch einen zweiten. Er hatte einen schwarzen Plastikgriff und trug das Cadillac-Logo.
Bei dem letzten Beweisstück aus der Tüte, einer geschmackvollen weißen Visitenkarte, die mit schwarzer Tinte bedrucktwar, hielt Trevor inne. Auf einmal hatte er das Gefühl, als würde sein Inneres in tausend Stücke zerspringen.
Rain Sommers, Ph. D., L.C.S.W., Psychotherapie, Gutachten, Beratung für Jugendliche
„Die Leichenstarre hat bereits vollständig eingesetzt“, verkündete Thibodeaux. Er kniete neben der Leiche und packte die steifen Arme des Toten. „Der Junge ist seit ungefähr zwölf bis vierzehn Stunden tot. Der Zeitangabe auf seinem Handy nach zu urteilen, sieht es so aus, als ob er sich, direkt nachdem er versucht hat, Dr. Sommers zu erreichen, das Leben genommen hat.“
Trevor kam näher, um sich die Leiche genauer anzusehen. Kleine rote Punkte,
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