Nachtruf (German Edition)
sogenannte Einblutungen, bedeckten Olivers Gesicht und Nacken. Einer der Kriminaltechniker nahm das Gummiseil vom Hals des Jungen. Die dunklen Druckstellen wurden sichtbar, wo das Seil vom Körpergewicht des Opfers zusammengezogen worden war.
„Gibt es einen Abschiedsbrief?“
Thibodeaux schüttelte den Kopf. „Nada.“
Der Kriminaltechniker fing wieder an zu fotografieren. In schneller Folge leuchtete das Blitzlicht der Kamera auf. Währenddessen zog Trevor die Latexhandschuhe aus. Der Schlüsselanhänger ließ ihm keine Ruhe.
Gedankenverloren runzelte er die Stirn und schritt durch die große, hölzerne Bogentür aus der Kirche. Draußen waren einige Wolken am leuchtend blauen Himmel aufgezogen, und vom Bürgersteig stieg die Hitze empor. Ein Asiat mit Pferdeschwanz in einem Overall der Kriminaltechnik fuhr mit dem Staubsauger durch das Innere des Mercedes, um auch die kleinsten Beweispartikel zu finden. Er schaltete das Gerät aus und tauchte aus der Fahrertür auf, als Trevor näher kam.
„Irgendwas gefunden?“
„Kokain, 3,5 Gramm, unter dem Bodenbelag. Und ein paar Haare, die nicht vom Toten stammen. Lange Haare, die möglicherweisevon einer Frau stammen. Aber heutzutage ist das ja schwer zu sagen.“ Der Techniker wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Eines ist seltsam – die Beifahrertür ist innen völlig zerkratzt, und der Türgriff funktioniert nicht.“
Trevor blinzelte in die Sonne. „Was ist mit Fahrzeugpapieren?“
„Der Wagen ist auf einen Christian Carteris zugelassen.“
„Schicken Sie die Haare zur Analyse ins Labor.“ Trevor gab dem Kriminaltechniker seine Karte. „Und machen Sie Druck, dass die Ergebnisse schnell kommen. Benachrichtigen Sie mich, sobald Sie sie haben.“
„Ja, Agent Rivette.“
Trevor überließ den Kriminaltechniker seiner Arbeit und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er tippte eine Nummer ein. Die Suchanfrage dauerte keine Minute. Der Mercedes gehörte tatsächlich Christian Carteris. Doch der Chirurg besaß noch ein zweites Fahrzeug. Einen schwarzen 2010 Cadillac Escalade.
Es gab Tausende von schwarzen Geländewagen im Orleans Parish, aber als er das Gespräch beendete, klammerte Trevor sich an dieses untrügliche Gefühl in seinem Bauch.
„Rivette.“ Thibodeaux lief auf ihn zu. „Ich habe gerade einen Anruf von dem Polizisten bekommen, der zu Carteris’ Haus geschickt wurde, um die Nachricht vom Tod seines Sohnes zu überbringen. Niemand war da. Also ist er zum Krankenhaus gefahren. Er wollte Dr. Carteris bei der Arbeit erreichen. Die Mitarbeiter meinten, sie hätten den Chirurgen heute Morgen versucht über seinen Pieper zu erreichen – wegen eines Notfalls, eines dreifachen Bypasses –, er sei jedoch nicht aufgetaucht. Glauben Sie, der Junior hat erst Daddy kaltgemacht, bevor er sich selbst umgebracht hat?“
Trevor machte sich auf in Richtung Wagen. „Ich glaube vielmehr, Christian Carteris ist Dante.“
41. KAPITEL
Die Mahagonitür des viktorianischen Herrenhauses benötigte vier Stöße mit dem Rammbock, bevor sie nachgab. Die FBI-Agenten und das SWAT-Team der Polizei strömten ins Innere des Gebäudes. Danach betrat Trevor mit erhobener Waffe das Haus. McGrath und Thibodeaux bildeten die Nachhut.
„Sauber!“ Das Wort hallte durch die Korridore, während die Zimmer nach Bewohnern abgesucht wurden. Binnen Minuten kehrte der Leiter des SWAT-Teams jedoch zurück und schüttelte den Kopf.
„Negativ. Das Haus ist leer. Es befindet sich auch kein Geländewagen in der Garage.“
Trevor steckte die Waffe wieder ins Holster. Die Enttäuschung war beinahe übermächtig. Er überblickte das geradezu fürstliche, sich über zwei Stockwerke erstreckende Foyer, den funkelnden Kronleuchter, den Fußboden aus italienischem Marmor und die antiken Möbel, vermutlich französisches Rokoko. Eine gewundene Treppe führte in den ersten Stock, und über seinem Kopf entdeckte er ein Oberlicht aus Buntglas. Das Fenster zeigte eine Szene aus dem Mardi Gras, wie der Karneval hier genannt wurde, in traditionellem Violett, Grün und Gold.
Trevor war sich sicher, dass sie auf der richtigen Spur waren. Der schwarze Geländewagen, Christian Carteris’ Verschwinden, die Verbindung zu Rain über seinen Sohn, ja, sogar die Beschreibung, die sein Vater dem Phantombild-Zeichner gegeben hatte – es passte alles ins Bild. Trevor hatte das Gefühl, eine Sanduhr stünde vor ihm, und der Sand würde ganz langsam durch den Hals zu Boden rieseln. Wenn Carteris
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