Nachtruf (German Edition)
Ärmel hatte er hochgeschoben. Es war ein ganz anderer Look als daskonservative Businessoutfit von vor ein paar Tagen. Der Pullover brachte seine sportliche Statur zur Geltung, und sein dichtes Haar glänzte im Licht der Galerie. Er trank nur Mineralwasser. Rain beobachtete, wie er die Flasche an die Lippen setzte und schluckte. Als sie merkte, dass Alex sie dabei ertappt hatte, wurde sie rot.
„Wie ich hörte, hast du Brians Bruder schon kennengelernt?“
Rain nickte, ohne weiter darauf einzugehen, denn sie war nicht sicher, wie weit Brian seinen Freund Alex eingeweiht hatte. Sie und David hatten zumindest die Anweisung erhalten, über die mögliche Verbindung zwischen Midnight Confessions und den Serienmorden Stillschweigen zu bewahren.
„Er ist ganz anders als Brian“, grübelte Alex. „Ohne Frage umwerfend, aber für meinen Geschmack etwas zu ernsthaft.“
„Was weißt du über ihn?“
„Er ist vierunddreißig, Single, hat einen Abschluss in Jura von der Georgetown University und arbeitet seit sieben Jahren beim FBI“, erzählte Alex. „Brian scheint ihn förmlich anzubeten.“
„Magst du ihn?“
„Ich habe ihn gerade erst kennengelernt.“ Als sie ihn überrascht ansah, fügte er hinzu: „Anscheinend findet der große Bruder nicht oft den Weg nach New Orleans. Er hat sich offensichtlich ein wenig von der Familie entfremdet.“
„Warum?“
„Ich bin nicht sicher“, gab Alex stirnrunzelnd zu. „So wie ich es verstanden habe, ist er als Teenager nach Maryland gezogen, um dort bei einer Tante und einem Onkel zu leben. Was auch immer damals geschehen ist, Brian redet nicht darüber.“
Rain folgte Alex’ Blick. Er sah zu Brian, der gerade in eine Diskussion mit einem grauhaarigen Mann mit Ziegenbärtchen vertieft war. Soweit Rain wusste, war er ein bekannter Kunstsammler.
„Brian hat mir nur erzählt, dass der Vater ein verdammter Scheißkerl war, vor dessen Beleidigungen und Beschimpfungen niemand sicher sein konnte. Trevor hat immer viel aushaltenmüssen“, fuhr Alex fort. „Die Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie ist betrunken die Treppe hinuntergefallen.“
Rain starrte in die goldene Flüssigkeit in ihrem Glas. „Wie schrecklich.“
„Annabelle erzählt auch nicht viel über die Familie.“
„Annabelle?“
„Brians Schwester.“
Rain blickte noch einmal kurz zu der Frau hinüber, die neben Trevor stand. Erst jetzt bemerkte sie die Ähnlichkeit zwischen den beiden. Von Alex hatte sie mal gehört, dass Brian eine Schwester hatte, die sich um die Buchführung von Synapse kümmerte. Rain hatte sie bislang noch nie getroffen. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte die Schwester auch eine kleine Tochter.
„Genug von diesem deprimierenden Zeug“, verkündete Alex und nahm ihren Arm. „Heute Abend wollen wir uns amüsieren. Und selbstverständlich Brian reich und berühmt machen.“ Er führte sie zu einer Gruppe von Kunstförderern und flüsterte: „Ich warne dich: Ich bin mir nicht zu fein, deinen Promistatus für meine Zwecke einzusetzen. Ein paar von unseren Gästen mit dicker Brieftasche lassen sich davon bestimmt beeindrucken.“
„Ich bin kein Promi“, widersprach Rain. Doch sie wusste, dass Alex wie ein Schnellzug war, den sie wohl kaum zum Entgleisen bringen konnte.
Als er sie der Gruppe vorstellte, lächelte Rain und beteiligte sich an der Unterhaltung, aber ihre Gedanken blieben bei Trevor Rivette. Sie hatte fast das ganze Wochenende über ihn nachgedacht. Das lag wahrscheinlich zum Großteil an ihrer Angst vor dem Anrufer bei Midnight Confessions . Als Bundesagent repräsentierte er Sicherheit und Schutz, und sie hatte sich nun mal verletzlich gefühlt. Zumindest sagte ihr das ihre Erfahrung als Psychologin.
Du bist nur ein Fall für ihn. Eine Akte, die er am Ende schließen muss, das ist alles.
Sie rief sich Davids Worte ins Gedächtnis und versuchte, Trevor Rivette aus ihren Gedanken zu verbannen.
Als der Abend voranschritt, wurde klar, dass Alex ganz New Orleans zu Brians Vernissage eingeladen haben musste. Trotz der stattlichen Größe der Galerie waren die Räume zum Bersten voll. Für Alex und Brian war der Abend ein Riesenerfolg. Fast ein Dutzend kleiner Kärtchen mit einem goldenen Rahmen zierte bereits Brians Werke – ein diskretes Zeichen, dass sie verkauft waren.
Rain bahnte sich ihren Weg durch die Menge und bemühte sich, die Blicke der Leute nicht zu beachten. Sie hatte sich nie an die Aufmerksamkeit gewöhnen können, die ihr Job
Weitere Kostenlose Bücher