Nachtruf (German Edition)
Nachmittag noch einen Termin, doch ich kann ihn absagen, wenn du herkommen möchtest.“
Für einen kurzen Moment konnte sie seinen Atem rau und blechern durch das Telefon hören. Rain fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ihr Nacken war feucht, nachdem sie die ganze Zeit draußen in der schwülen Hitze zugebracht hatte. Sie überlegte fieberhaft, was sie noch sagen konnte, um ihn zu überzeugen.
„Ich habe unsere therapeutische Beziehung nicht missbraucht. Es ist mir wichtig, dass du mir vertraust. Bitte, glaube mir …“
Rain stöhnte auf, als die Leitung plötzlich tot war. Oliver hatte aufgelegt.
17. KAPITEL
Die Tür zu Davids Büro im Radiosender war geschlossen. Rain ging leise daran vorbei. Sie war dankbar für die vorläufige Galgenfrist. Olivers Beschuldigungen während ihres Telefongespräches am Nachmittag hatten sie mitgenommen. Und dieses Gefühl der Erschöpfung verstärkte sich nur noch, als der Tag nun in den Abend überging und sie sich darauf vorbereitete, die nächste Livesendung zu überstehen.
Sie schlüpfte in das kleine Sendestudio und richtete ihre Gedanken darauf, die vorab aufgezeichneten Beiträge auszuwählen, die zwischen den Livesegmenten mit der Beratung der Anrufer eingespielt werden würden. Ein paar Minuten später klopfte es. Es war allerdings nicht David, sondern Trevor. Rain nahm ihr Headset ab, als er eintrat.
Er legte das Foto aus der Gerichtsmedizin auf das Bedienpult vor ihr. „Wir haben das Mädchen heute Morgen identifiziert. Das Opfer heißt Rebecca Belknap.“
Rain musste schlucken, als sie das Foto des toten Mädchens jetzt erneut betrachtete und im Geiste die Haarfarbe von Feuerrot zu Honigblond tauschte. Oh, mein Gott. In ihrem Kopf verschmolz das Foto mit der schwachen Erinnerung an das Mädchen, das vor einigen Monaten in ihrem Büro gesessen hatte. Becca Belknap hatte nur zwei Therapiesitzungen absolviert, bevor sie zu einem anderen Therapeuten gewechselt war. Sie hatte an einer Essstörung gelitten. Die Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der blassen Haut des Mädchens auf dem Foto ab. Die Kleine schien weitere zehn bis fünfzehn Pfund Gewicht verloren zu haben, seit Rain sie zum letzten Mal gesehen hatte. Dabei war sie damals schon furchtbar dünn gewesen.
„Sie war eine Ihrer Patientinnen, oder?“
Rain biss sich auf die Unterlippe und starrte das Foto weiter an. „Ich kann nicht glauben, dass ich sie nicht erkannt habe. Sie sieht … so anders aus …“
„Wie anders?“
„Früher hatte sie blondes Haar. Sie ist auch viel dünner geworden.“ Nachdenklich strich Rain mit dem Finger über ihren Nasenrücken. „Ich vermute, Becca hat sich einer Schönheitsoperation unterzogen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie früher einen kleinen Höcker auf der Nase hatte.“ Stumm musterte Trevor sie. Sie drückte eine Hand gegen ihren Magen, als sie von ihrem Stuhl aufstand. „Sie denken, ich wusste, wer dieses Mädchen war, und hätte es Ihnen verheimlicht.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
Sie machte ein paar Schritte und blieb vor einer Korktafel an der Wand des Studios stehen. Rain starrte auf die Fotos, die wild zwischen dem Tagesabschnittsplan des Senders und diversen Büromitteilungen hingen. Was für eine Therapeutin war sie, dass sie ihre eigene Patientin nicht wiedererkannte?
Trevor stellte sich hinter sie und umfasste ihre Schultern. Seine Berührung beruhigte sie. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte.
„Menschen können anders aussehen, wenn sie tot sind“, sagte er. „Zusammen mit den äußerlichen Veränderungen des Mädchens …“
Sie drehte sich zu ihm um. „Ich hätte es wissen müssen. Becca war meine Patientin …“
„Vor einer Weile. Sie haben mit einer Menge Jugendlicher zu tun. So etwas passiert, Rain. Seien Sie nicht so hart mit sich selbst.“
„Sie verstehen das nicht. Die Kinder sind nicht irgendwelche Fälle und Akten für mich.“ Ihre Stimme zitterte. Sie hatte natürlich erwartet, dass sich die Situation zwischen Trevor und ihr nach dem Kuss letzten Abend irgendwie unangenehm verändern würde. Sie hätte sich jedoch niemals träumen lassen, dass er sie mit solchen Vorwürfen konfrontieren würde. Das Gesicht von Becca Belknap brannte sich in ihr Gehirn.
„Ich muss Sie bitten, sich zu konzentrieren, Rain. Was wissen Sie noch über Rebecca? Woran können Sie sich erinnern?“
Ihre Erinnerungen an diese zwei kurzen Sitzungen waren verschwommen.
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