Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Unrecht tat. Er hatte Angst vor den Morton-Frauen, und er rechnete Letitia zu ihnen. Kopfschüttelnd kehrte Letitia zu dem Häuschen zurück, in dem die Karten fürs Fährschiff verkauft wurden. Sie setzte sich dort in der Sonne auf die Bank und sah den Möwen zu.
Manchmal schaute Letitia auf ihre Armbanduhr. Kein Mensch näherte sich ihr. Niemand störte sie. Sie hatte auch keine Lust mehr, zum Konstabler zu gehen. Sie würde um 16.15 Uhr oder wann immer es ablegte mit dem Fährschiff abfahren und die ganze Geschichte vergessen.
Um 15.10 Uhr fing im Dorf eine Glocke zu bimmeln an. Sie klang blechern, und ihr Ton hatte eine ganz besondere Bedeutung, die Letitia vom Tod ihrer Mutter her gut kannte. Jemand war gestorben. Es handelte sich um die Totenglocke.
Dem unheilvollen Klang konnte Letitia sich nicht entziehen. Sie überlegte sich, wer gestorben sein mochte, und dachte sogar daran, ins Dorf zu fahren und zu fragen. Aber bei der Sturheit der Einheimischen hätte man ihr keine Auskunft gegeben.
Letitia blieb sitzen. Der Schatten des Fährhäuschens war weitergewandert. Letitia saß nun im Schatten. Sie fröstelte. Der Klang der Totenglocke rührte sie an, ließ sie an ihre Mutter denken. Außerdem ahnte sie Unheil. Es war ein Gefühl.
Letitia spürte, dass die Totenglocke für sie von Bedeutung war. Das war nicht nur irgendein Stornowayer gestorben, sondern es gab einen Bezug zwischen dem Sterbefall und Letitia. Sie versuchte, die trüben Gedanken abzuschütteln.
Doch dann kam ein Junge vom Dorf herbeigelaufen. Der Junge hatte rote Haare, die unter seiner Mütze vorquollen, und Sommersprossen.
Atemlos blieb er stehen.
»Miss Letitia Cabell?« fragte er.
»Die bin ich.«
»Sie sollen ins Dorf kommen. Jemand aus Ihrer Verwandtschaft ist gestorben.«
Letitias Ahnung hatte also nicht getrogen. Sie dachte sich bereits, wen es getroffen hatte, wollte es aber nicht wahrhaben.
»Wer ist es?«
»Angus Morton. Es hat ihn plötzlich und unerwartet dahingerafft.«
*
Die Antwort traf Letitia so hart wie ein Keulenschlag. Sie zuckte zusammen. Das Gesicht des rotblonden, stattlichen Angus erschien vor ihrem geistigen Auge, wie er auf der Dinnerparty zu ihr gesprochen und sie gewarnt hatte. Er hatte die Morton-Frauen als Teufelsanbeterinnen bezeichnet, was sie schließlich auch waren, und die alte Helen die Rädelsführerin genannt.
Sein Tod musste dazu in einem Zusammenhang stehen. Angus war nicht zufällig gestorben. Man hatte ihn ermordet. Die blitzartige Erkenntnis schnürte Letitia die Kehle zu. Sie brachte kein Wort hervor.
Mord! Ihre Verwandten hatten einen der ihren ermordet in diesem elenden, abgelegenen, teuflischen Inselnest.
Letitia wurde es schwindlig.
»Was ist denn nun, Miss Cabell?« fragte der Junge. »Kommen Sie ins Dorf? Ich soll Sie führen.«
»Nein.«
Nichts in der Welt würde Letitia dazu bringen, Stornoway noch einmal zu betreten und ins Haus einer ihrer Verwandten zu gehen. Sie wollte nichts wie fort von der Insel. In London aber, da würde sie zu New Scotland Yard gehen und veranlassen, dass man den Tod Angus Mortons einer genauen kriminalistischen Untersuchung unterzog.
»Was soll ich denn bestellen?« fragte der Junge.
»Das ist mir gleich. Ich bleibe hier.«
Der Junge zuckte die Achseln und rannte zurück. Letitia verlor ihn aus der Sicht. Die Totenglocke läutete immer noch. Letitia schaute zum Dorf. Immer mehr Einwohner traten aus den Häusern und bildeten ein schweigendes Spalier. Sie schauten zu Letitia her. Keiner näherte sich ihr.
Die Blicke waren eine Anklage und zugleich eine Aufforderung, in dem Todeshaus zu erscheinen. Letitia ignorierte sie und wendete den Stornowayern demonstrativ den Rücken zu.
Hufgeklapper und Räderrollen ließ sie aufhorchen. Letitia drehte sich um und sah zu ihrem Entsetzen die ebenholzschwarze Kutsche heranfahren, mit der sie am Vortag vom Fährschiff abgeholt worden war.
Die vier Rappen, die die Kutsche zogen, trugen lila Federbüsche. Auf dem Kutschbock saßen Thomas Morton, im schwarzen Frack und mit Zylinder, wie Letitia ihn in London zuerst gesehen hatte, und jener verfressene Dicke von der Dinnerparty. Auch er war in einen schwarzen Anzug gezwängt.
Über der Kutsche aber schwebte und schwankte ein Teufelskopf. Letitia erstarrte vor Angst. Sie schloss die Augen und schaute wieder hin, aber das Bild blieb. Der Teufelskopf, hager, schwarz, mit Spitzbart und Zotteln, aufgeworfenen Nüstern und Hörner begleitete die Kutsche.
Dampf
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