Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
zu, weil sie glaubte, die Verfolgungsjagd sei beendet.
Den Kräften ihres Gegners, eines handfesten Fischers, hatte Letitia nicht viel entgegenzusetzen. Aber sie packte den Mann bei den Beinen und zog sie ihm plötzlich mit einem Ruck unterm Leib weg.
Der Stornowayer setzte sich unsanft auf den Hosenboden und rutschte und purzelte Letitias nächsten Verfolger hinter ihr entgegen. Er riss zwei Männer von den Beinen. Die anderen wurden aufgehalten.
Letitia flüchtete über den Dünenkamm. Sie schaute sich um. Zu ihrer Linken befand sich das Meer, zur Rechten, hundert Meter entfernt, liefen Männer und Frauen aus Stornoway. Hinter diesen, schräg rechts in einer Entfernung, erhob sich auf dem Hügel das Haus der sinkenden Sonne.
Letitia wurde gehetzt wie ein Wild. Das ganze Dorf war hinter ihr her. Sie schaute aufs Meer. Doch von dem Fährschiff war noch nichts zu sehen. Von den Fischkuttern, die sie erblickte, konnte Letitia keine Hilfe erwarten.
Ihre Verfolger näherten sich wieder. Die Kutsche hielt noch am gleichen Fleck wie zuvor. Ann und die drei anderen Morton-Frauen waren ausgestiegen und standen als ein schwarz gekleidetes, bedrohliches Quartett da. Ob sie noch sangen, konnte Letitia nicht feststellen, denn die Rufe ihrer Verfolger übertönten es.
Ganz Stornoway war auf den Beinen. Alle jagten Letitia.
Ein kräftiger Mann mit hochrotem Kopf hastete heran. Er keuchte vor Anstrengung und war offensichtlich ganz versessen darauf, Letitia zu fassen und den Mortons damit eine Gefälligkeit zu erweisen.
Letitia bückte sich, hob einen Stein auf und warf ihn nach dem Verfolger. Er riss einen Arm hoch und duckte sich. Dann blieb er stehen. Letitia flüchtete ins Dünengelände, den Klippen zu, die sich südlich von Stornoway erstreckten. Wenn sie die Klippen erkletterte, konnte sie die Verfolger abschütteln, hoffte Letitia.
Dann konnte sie sich im Moor- und Hügelland im Innern der Inseln verstecken. Aber bis dahin war es ein weiter Weg.
Rutschender Sand hemmte Letitias Schritte. Sie rutschte ab, als sie den Kamm der nächsten Düne fast erreicht hatte, ihren Verfolgern entgegen. Die Männer aus Stornoway schrien schon triumphierend.
Da strampelte sich Letitia mit der Kraft der Verzweiflung doch noch einmal hoch. Eine Männerhand packte sie am Knöchel. Letitia strampelte. Ihre Ferse traf den Mann am Kinn, und er purzelte zurück und rutschte den steilen Hang hinunter, bis ein Busch ihn aufhielt.
Letitia arbeitete sich hoch. Schweiß stand ihr auf der Stirn und durchnässte ihr Kleid. Jeder Atemzug schmerzte. Letitia wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, überhaupt noch weiterzulaufen. Sie verfügte über Reserven, von denen sie selbst nichts gewusst hatte.
»Lasst mich in Ruhe!«, rief sie den Verfolgern zu.
Dann eilte sie mit gerafftem Kleid an der anderen Seite den flacheren Dünenhang hinunter. Schon erreichten die ersten Verfolger den Kamm der Düne und hoben sich dort gegen den sonnigen blauen Himmel mit den wenigen weißen Wolken ab. Die Stornowayer fuchtelten und deuteten.
Letitia übersah eine Ranke am Boden, die sich um ihren rechten Knöchel legte. Die Ranke spannte sich, und mit einem Ruck hielt sie Letitias Fuß fest. Letitia fiel hart hin. Sie schürfte sich die Hände auf. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihr Fußgelenk.
Einen Moment war Letitia durch den Aufprall benommen. Dann setzte sie sich auf, sah ihre Verfolger von der Düne und von rechts aufholen und auf sich zueilen und löste die Ranke von ihrem Fuß.
Als sie sich aufrichtete, zuckte der Schmerz wieder vom Gelenk her durch ihr Bein. Letitia konnte es nicht so belasten wie vorher. Sie vermochte nur noch zu humpeln.
So konnte sie den Stornowayern nicht mehr entkommen. Nach wenigen Metern wurde sie gestellt. Hauptsächlich Männer umringten Letitia.
Sie schaute sich um, aber der Kreis war geschlossen.
Noch fasste keiner sie an.
»Was habe ich euch denn getan?« fragte Letitia. »Warum wollt ihr mich den Mortons ausliefern? Betet ihr auch den Satan an? Ich wollte doch nur fort von der Insel.«
Auch die Verfolger atmeten heftig. Ihre Mienen waren nicht feindselig, aber entschlossen.
»Es tut uns leid, Miss«, sagte ein hagerer Mann in unbeholfenem Englisch. »Wir können nicht anders, sonst gibt es ein grässliches Unheil. Bitte, begleiten Sie uns. Wir wollen Ihnen keine Schmerzen zufügen.«
»Lasst mich doch fliehen.«
»Das geht nicht.«
»Aber ich kann nicht mehr laufen.«
»Dann werden wir Sie tragen,
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