Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
auch die Physiognomie seines Gesichtes schien stark verändert. Das Kindlichewar harten, scharf geschnittenen Zügen gewichen. Mit einer matten Bewegung zog er die Perücke vom Kopf, ließ sie durch die Luke fallen und legte seine Hände in den Schoß. Vor ihrem inneren Auge reihte sich Detail an Detail. So hatte ihr Vater damals in ihrem Zimmer gesessen, müde, ratlos, erschöpft. Alles an Adam erinnerte sie plötzlich an ihren Vater. Der harte Zug um den Mund, der selbst in den glücklichsten Momenten nicht gänzlich verschwand, der gramgebeugte Rücken und die im Schoß ruhenden Hände.
»Es ist zu Ende, Alexandra. Das Wasser wird zurückgehen, dann werden sie kommen und alles erfahren. Man kann sich nicht ewig verstecken. Also lass es uns jetzt beenden.«
Alexandras Hand krampfte sich um den Stiel der Axt. »Was willst du?«
»Du weißt es doch.«
Sie schüttelte wild den Kopf.
»Mach es mir nicht so schwer!«, sagte Adam ruhig und lächelte sie an.
»Warum ich?« Eine Frage, die schon seit einer Ewigkeit ihr gesamtes Denken beherrschte, sie in ihren Träumen verfolgte und letztlich zu der gemacht hatte, die sie jetzt war. Die Antwort war denkbar einfach, man nannte es Schicksal.
»Weil ich sonst weiter töten werde. Der Alptraum würde nie aufhören. Erst mit deinem Tod ist es beendet.«
Nun hatte er es ausgesprochen. Er war es … nicht Harris. Was aber nutzte ihr die Erkenntnis, zu wissen, wer ihr Mörder war?
Alexandra hatte das Gefühl, als würde sich ein Strick um ihre Kehle legen, der von Sekunde zu Sekunde enger gezogen wurde. Das war das Ende? Sahen so die Minuten vor dem Tod aus? Der Gedanke an diesen letzten Moment hatte sie ihr Leben lang fasziniert. Was fühlte man, wenn es kein Morgen mehr gab? Erleichterung, weil die Qualen verschmähter Liebe, fehlender Anerkennung oder persönlichen Misserfolgsgrößer waren als die Kraft weiterzuleben? Oder Trauer darüber, dass man das Licht des folgenden Tages nicht mehr erblicken würde?
Alexandra stellte mit Erschrecken fest, dass sie geneigt war, loszulassen. Ihre Kraft wich wie die Luft nach einem Nadelstich in eine Luftmatratze. Langsam, aber stetig. Des Versteckspielens müde, konnte sie weder weglaufen noch sich dem Kampf mit einem ungleichen Gegner stellen.
Welche Magie benutzte Adam, dass sie so schnell mit dem Tod ihren Frieden schließen konnte? Und wann, hatte man ihn vor Augen, kehrte endlich der Überlebenswille zurück? Müde sank Alexandra in Adams Schoß. Sie spürte seine Hand, die sanft über ihr Haar glitt, und schloss die Augen. Adam begann wieder zu singen. »Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold.« Alexandras Fingerspitzen verschlossen seine Lippen. »Als eine stille Kammer«, sang Alexandra leise, »wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.« Einen Augenblick ausruhen! Nur einen Augenblick. Mit Neugierde wartete sie darauf, dass ihr Leben an ihr vorbeizog. Die unbeschwerte Zeit in ihrem Leben währte nur kurz, viel zu kurz, als dass sie sie hätte bewusst genießen können. Es war ihr nie gelungen, aus dem Schatten, den Philipps Tod verursacht hatte, herauszutreten. Was blieb, war ein fortwährender Alptraum, der nun schon dreizehn Jahre andauerte. Würde der Moment vor ihrem Tod ihr vielleicht ein anderes Leben zeigen, eines, das zwar existierte, das sie jedoch nie wahrgenommen hatte?
»Es wird schnell gehen. Ich verspreche es dir!«, hörte sie ihn flüstern.
Alexandra öffnete die Augen, drehte den Kopf und sah in sein Gesicht. Das hässliche Kind war zurückgekehrt! Sie schnellte nach oben, bündelte die gesamte Kraft in ihrem rechten Arm, holte aus und ließ die Axt mit rasender Geschwindigkeit auf seinen Kopf hinabfahren. Die Schneide trafihn mitten durch die Stirn. Er saß aufrecht, mit gespaltener Stirn, und sah sie an. Der Ausdruck in seinen Augen war eine Mischung aus Grauen und Verwunderung. Panisch und aus Leibeskräften schreiend, trat sie mit dem Fuß gegen seinen Körper. Er fiel nach unten wie eine Puppe, überschlug sich auf dem Absatz und fiel weiter. Sie konnte nicht mehr sehen, wie er im Wasser versank, denn alles verschwand hinter einem schwarzen Vorhang.
Ein Geräusch, das nicht in die Kulisse des lärmenden Wassers passte, holte sie aus der Ohnmacht. Es klang wie der Motor eines Autos, aber da der Wald einen knappen Meter unter Wasser stand, war das mehr als unwahrscheinlich. Dennoch hörte sie kurz darauf lautes Plätschern im unteren Flur.
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