Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Problem war allerdings nicht die Entfernung, sondern ein geeignetes Fortbewegungsmittel. Kein Fahrer würde sich bereit erklären, ohne Anordnung von oben auf gut Glück in das Überschwemmungsgebiet zu fahren. Und der bloße Verdacht, dass sich dort noch Menschen aufhalten könnten, würde als Argument nicht ausreichen. Um sich Gewissheitzu verschaffen, musste Harris das Risiko allein eingehen. Aber wie so oft im realen Leben, in dem man sich nicht einfach ein Pferd schnappen und querfeldein zur Angebeteten preschen konnte, blieb Harris nur eine einzige, sehr ernüchternde Möglichkeit. Robert Schumanns Onkel mit seiner Autowerkstatt samt einem höhergelegten Jeep.
Dass der Onkel aufgrund der polizeilichen Ermittlungen, an deren Ende seine Neffen in Haft saßen, auf Harris nicht gut zu sprechen war, sollte momentan zweitrangig sein. Das einzig Wichtige war, dass er den Jeep nicht gerade selbst nutzte, sondern dieser noch neben der Werkstatt parkte. Alles andere würde sich später klären lassen.
42.
In den letzten fünf Minuten war nichts mehr passiert. Alexandra saß bewegungslos vor der Luke und starrte auf die blanke Schneide der Axt, die durch das zersplitterte Holz ragte. Im Haus herrschte gespenstische Stille. Weder hörte sie Adam atmen, noch hatte sie Schritte auf der Treppe vernommen, denen sie entnehmen konnte, dass er fort war. Sie beugte sich nach unten und legte vorsichtig ihr Ohr an die Planken. Direkt vor ihren Augen steckte die Axt, an deren metallener Oberfläche sich ihr Gesicht spiegelte. Sie sah furchtbar aus. Mit den schwarzen Rändern unter den Augen und an der Stirn festgeklebten Haaren gab sie ein erschreckendes Bild ab. Trotz der misslichen Lage brauchte sie einen Moment der Ruhe. Woher kannte Adam die Tragödie ihrer Familie? Außer mit Nina und Harris hatte Alexandra mit keinem Menschen darüber gesprochen.
Adam hatte auf ihre Frage nach Harris zwar nicht konkret geantwortet, aber seine Reaktion war eher bejahend als verneinend gewesen. Bedeutete das etwa, dass Harris gemeinsame Sache mit diesem Irren machte? Woher sonst sollte Adam all die Namen der getöteten Frauen kennen? Bewahrten sie die Kleider als Trophäen auf und Harris hatte Adam erlaubt, sie hier oben heimlich zu tragen? Jetzt war auch klar, warum Harris auf dem Dachboden nichts Verdächtiges bemerkt haben wollte. Ganz sicher befand sich unter den Kleidern in der Kammer inzwischen keines mehr, das den toten Frauen gehörte. Hatte Harris die schwarze Perücke in Schumanns Autowerkstatt deponiert? Was war mit dem blutigen Shirt? Er hatte es nicht, wie er sagte, tiefer hineingesteckt, sondern erst nachträglich!
Wie hatte er Theresias Leiche so schnell auf der Insel finden können?
Und was bedeutete seine Bemerkung, dass ihr Lächeln irgendwann ihr Untergang sein würde? Dieser Satz bekam nun eine vollkommen andere Bedeutung. Wenn er kam, würde er sie töten, dessen war sich Alexandra inzwischen sicher. Sie hatte ihn nie für sonderlich clever gehalten, aber der perfide Trick, als Polizist einen Mörder zu jagen, den es nicht geben konnte, weil er selbst es war, belehrte sie nun eines Besseren. Eines beruhigte sie immerhin, sie wusste nun, mit wem sie es zu tun hatte, und war vorbereitet. Aber jetzt galt es, erst einmal herauszufinden, wo Adam steckte.
Ganz langsam hob sie die Luke ein Stück an und sah durch den schmalen Spalt nach unten. Adam stand nicht mehr auf der Treppe und war, soweit sie es sehen konnte, auch nicht im oberen Flur. Vorsichtig lehnte sie die Luke an den Schornstein, stellte den gesunden Fuß dagegen und hebelte mit aller Kraft die Axt aus dem Holz. Es gelang ihr fast geräuschlos. Die Axt in ihrem Schoß gaukelte ihr zwar für einen Moment Sicherheit vor, aber der gebrochene Knöchel holte sie schnell in die Realität zurück. Was für eine Chance hatte sie gegen einen irren Serienmörder, der seit Monaten selbst die Polizei zum Narren hielt? Immer noch stand die Frage, warum er sie nicht längst getötet hatte, im Raum. Die Kerze neben der Kammer begann langsam und leise zischend zu erlöschen.
»Lass es uns jetzt beenden.«
Alexandras Atem ging stoßweise, als sie sich zum Fenster umdrehte. Im flackernden Licht der Kerze stand Adam.
»Was soll das heißen?«, keuchte sie.
Die Kerze erlosch. Sie hörte, wie Adam langsam auf sie zugelaufen kam. Entgegen seiner vorherigen Hysterie wirkte er ruhig und beherrscht, als er sich neben ihr in die Öffnung der Luke setzte. Er trug jetzt Hose und Shirt,
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