Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
die Hände sinken. Er fasste den Saum seines Kleides und tänzelte auf der Stelle.
»Wie geht es dem kleinen Philipp?«, fragte er beiläufig.
»Was?« Alexandras Stimme überschlug sich.
»Und deiner Mutter?«
»Hör auf!«
»Dein Vater … er hat wirklich gelitten, als es passierte. Philipp war …«
»Hör auf!«, schrie Alexandra.
»… er war sein Ein und Alles! Weil er ein Junge war, verstehst du? Sein Junge! Nie wird dein Vater dir das verzeihen! Nie!«
Alexandra war nicht mehr fähig, zu reagieren. Das erste Mal, seit jener schicksalhaften Sommernacht, in der ihr Bruder starb, hatte jemand genau das ausgesprochen, was seit dreizehn Jahren an ihr nagte. Nicht einmal die Ärzte hatten es gewagt, sie damit zu konfrontieren, geschweige denn ihre Eltern, die, monatelang unter Schock stehend, die Wohnung nicht mehr verlassen konnten. Bis zu jener Nacht, als Alexandra selbst dem Tod von Angesicht zu Angesicht … nein, niemand würde ihr jemals verzeihen. Sie tat es ja selbst nicht.
»Tja, so ist das mit der Vergangenheit!«, hörte sie Adam sagen. »Wer sie zu verdrängen versucht, der fördert sie noch mehr zutage. Wir vergessen, woran wir uns nicht erinnern wollen. Aber so funktioniert das nicht, Alex! Oh, entschuldige, Philipp nannte dich so.«
Adams Miene wurde mit einem Mal ernst, fast feierlich. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ja? Ich weiß, wer die Frauen getötet hat!« Er begann sich wild im Kreis zu drehen, wobei er, gleich einer Ballerina, ihr immer wieder ruckartig das Gesicht zuwendete und Namen hervorstieß.
»Stefanie, Michaela, Sabine, Katrin, Theresia, Claudia. Ich weiß es … nur ich weiß es!«
Der wilde Tanz endete abrupt. »Da drin sind ihre Kleider!«, wisperte er und zeigte auf die Kammer. Alexandra stockte der Atem. Stefanie, Michaela … Kein Zweifel, Adam sagte die Wahrheit. Michaela, die Tochter des Fuhrunternehmers Beyer, hatte man am Ufer der Oder gefunden, und Stefanie war, laut Pauls Aussage, Alexandras Vormieterin gewesen, bis sie eines Tages verschwand. Ganz sicher war das auch derGrund, warum alle so merkwürdig auf ihren Einzug in dieses Haus reagiert hatten. Adam stand noch immer vor der Kammertür und zeigte mit ausgestreckter Hand hinein. Erst jetzt bemerkte Alexandra, dass seine Haare nicht mehr schwarz, sondern feuerrot waren.
»Nimm die Perücke ab«, sagte sie.
Adam schüttelte den Kopf.
»Tu es! Es ist zu deinem Besten!«
»Aber ich liebe rote Haare!«
»Nimm sie ab, wenn du nicht sterben willst!«
Adam begann hysterisch zu schreien, riss sich dabei immer wieder die Perücke vom Kopf, um sie gleich darauf wieder aufzusetzen, und sprang schließlich durch die Luke nach unten. Sekundenlang war es totenstill im Haus, kurz darauf kamen die Geräusche aus dem Obergeschoss.
Sie hörte, wie etwas über den Boden schleifte und dann im Takt des Treppenhinaufsteigens gegen die Stufen schlug. Sie zählte fünf, bis das Schlagen aufhörte. Er stand auf halber Treppe zum Dachboden. Alexandra biss die Zähne zusammen, rutschte zur Luke und schlug sie krachend zu. Kaum dass die fallende Luke den Rahmen erreichte, splitterte das Holz unter dem gewaltigen Schlag der Axt.
41.
Die Anwohner von Lunow waren gegangen. Die Erinnerung an die letzte große Flut war noch nicht verblichen, und die Angst der Menschen, die Katastrophe von 1997 könnte sich wiederholen oder gar übertroffen werden, saß tief. Kurz vor Mitternacht waren bei Hohensaaten die Deiche auf einer Länge von knapp fünfzig Metern gebrochen und hatten Löcher mit enormen Ausmaßen verursacht. In einer waghalsigen Aktion versuchten Taucher nun von der Wasserseite aus, die Bruchstellen mit riesigen Planen abzudecken. Wenn es gelang, entspannte das die prekäre Lage anliegender Ortschaften gewaltig. Zudem verschaffte es den Einsatzkräften die Zeit, einmal durchzuatmen. Seit zwanzig Stunden waren diese nun pausenlos im Einsatz. Harris musste zugeben, dass unter dem Dauerstress der letzten Stunden Alexandra aus seinen Gedanken verschwunden war. Erst jetzt, die erste Tasse heißen Kaffee in den Händen, fiel sie ihm wieder ein. Von den Männern, die mit dem Auto zu ihr unterwegs waren, hatte er nichts mehr gehört. Das musste zwar nicht unbedingt etwas heißen, denn schließlich waren sie ihm keine Rückmeldung schuldig, aber es beunruhigte ihn mittlerweile doch. Inzwischen waren vier Stunden vergangen. Von seinem jetzigen Standort Hohensaaten waren es nur wenige Kilometer bis zu Alexandras Haus. Das
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