Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
du nicht … ist ja auch egal. Können wir jetzt gehen?«
Alexandras Reaktion sprach Bände: kein Widerspruch, kein Gegenangriff, keine Verteidigung.
»Sag mir nur noch eins«, flüsterte sie stattdessen. »Wie lautet der Name meines Bruders?«
»Du sagtest, dass er Philipp heißt«, antwortete Harris und machte Anstalten, Alexandra auf seine Schultern zu heben, um sie die Treppe hinunterzutragen. Willenlos ließ sie es geschehen, aber als Harris seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, griff sie entschlossen nach der Axt am Schornstein und schlug ihm mit der stumpfen Seite auf den Kopf.
Harris brach unter dem Schlag zusammen und stürzte mit ihr auf den Boden.
Den Schmerz des Aufschlagens spürte Alexandra nicht, so schnell schoss das Adrenalin jetzt durch ihren Körper. Sie rappelte sich hoch, schlang in Windeseile das Tau um seine Füße und verknotete so akribisch den Strick an seinen Handgelenken, dass er sich unter keinen Umständen von selbst lösen konnte. Danach rutschte sie aus Harris’ Reichweite und wartete darauf, dass er wieder zu sich kam.
Harris’ Bewusstlosigkeit hielt nicht lange. Keine drei Minuten später blinzelte er und schlug die Augen auf. Benommen und gleichermaßen erstaunt sah er auf seine zusammengebundenen Hände.
»Warum hast du mich gefesselt?«
»Dasselbe habe ich Adam gefragt. Er sagte, dass du es warst.«
»Noch mal, ich kenne keinen Adam!«
»Ach, Harris, komm mir doch nicht so! Erst dachte ich tatsächlich,dass er es sei, aber Adam ist ein Kind und gar nicht dazu fähig.«
»Ich versteh kein Wort. Wie kommst du auf die absurde Idee, dass …«
»Kann ich dir sagen. Nur dass sie nicht absurd ist, sondern logisch.«
Es war ihr anzusehen, wie sehr sie mit sich rang. Irgendetwas in ihr kämpfte dagegen, dass sie es aussprach.
»Seit mein kleiner Bruder gestorben ist, habe ich seinen Namen nie wieder ausgesprochen. Ich weiß nicht, woher du ihn kennst. Wahrscheinlich ist das bei Bullen so, dass sie ihre Geliebte erst ausspionieren, bevor sie mit ihr ins Bett gehen. Aber Adam konnte den Namen unmöglich wissen. Es sei denn, du hast mit ihm darüber gesprochen.«
»Zum x-ten Mal, ich kenne keinen Adam. Okay, ich gebe zu, dass ich ein bisschen recherchiert habe. Aber das ist auch alles.«
Alexandra beschloss, ihre Strategie zu ändern. Er würde zwar über kurz oder lang dahinterkommen, was sie bezweckte, aber einen Versuch war es wert.
»Ich dachte, du liebst mich«, sagte sie leise. Harris’ Gesicht blieb regungslos.
»Liebe? Ich weiß nicht, nennen wir es eine vorübergehende Verwirrtheit. So etwas bleibt nicht.«
Erstaunt stellte Alexandra fest, dass sie sich, was Harris betraf, wieder einmal gründlich getäuscht hatte. Nina hingegen hatte ihn binnen Minuten durchschaut. Ihre Äußerung, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, hatte Alexandra damit abgetan, dass Nina ihr die Bekanntschaft wahrscheinlich nur neidete. Nun sollte Nina, wie so oft, recht behalten.
»Du bist verdammt arm dran, wenn du dieses Gefühl nicht kennst«, sagte Alexandra.
Harris schwieg. Vielleicht überlegte er nur, wie er die Fesseln gelöst bekam, vielleicht dachte er aber auch darüber nach,wie er ihr Vertrauen zurückgewinnen konnte, damit sie ihn losband. Dem Klang seiner Stimme nach tendierte er zu Letzterem.
»Du weißt doch gar nichts über mich!«, sagte er leise.
»Eben. Ich weiß nichts. Dann erzähl mir was! Das Ganze dauert doch keine fünfzehn Sekunden! Erzähl mir, was in dir vorgeht!«
Harris’ Gesichtszüge veränderten sich. Sei es, dass er nur schauspielerte oder sie tatsächlich umzustimmen versuchte, ganz offenbar ging irgendetwas in ihm vor, was ihn sanfter werden ließ. »Wann kennen wir jemanden wirklich, Alexandra? Wenn er uns ein Geheimnis offenbart hat? Wenn man zwanzig Jahre lang das Bett geteilt hat? Nein. Es ist Vertrauen. Das macht Freunde aus, dass sie einander das Gefühl von Sicherheit geben. Ich dachte, zwischen uns wäre das so.«
»Und dann spionierst du mir nach?«
»Ich konnte dein Verhalten einfach nicht verstehen. Aber ich wollte es. Ich wollte wissen, was mit dir passiert ist, damit ich nicht die falschen Fragen stelle. Eigentlich wollte ich …«
»Mir helfen? Komm mir nicht mit dieser Scheiße. Helfersyndrom, ja? Bist du deswegen Bulle geworden?«
Harris versuchte mit gefesselten Händen, sich das Blut, das von seiner Stirn herunterlief, aus den Augen zu wischen, aber es gelang ihm nicht. Verdrossen gab er auf und zwinkerte fortan
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